Von Carina Braun für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 4/2016 (gekürzte Fassung).
Eine Idee, die sich fühlen lässt
Bei unserem Wettbewerb "Mein gutes Beispiel" gewann die Bielefelder Firma Kampmann GmbH den Publikumspreis – mit einer Blindenschrift auf Textilwaren. Die Stickereitechnik ist eine enorme Erleichterung im Alltag blinder Menschen. Wir haben die Firma für unser Magazin "change" besucht.
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Hektisch hämmert die Nadel: Rotes Garn auf rotem Stoff, der Faden läuft erst hin und her, dann vor und zurück, hin und her, immer wieder über dieselbe Stelle, bis ein kleiner Kreis entsteht. Lage um Lage wächst er in die Höhe, bis er zu einem halbkugelförmigen Punkt geworden ist. Ein Punkt, den man mit den Händen fühlen kann. Der mit den Fingerspitzen lesbar ist.
Die Punkte, die in der Bielefelder Kampmann-Stickerei entstehen, sind die ersten ihrer Art. Jürgen Kampmann zeigt auf einen Monitor, der mit den Stickmaschinen verbunden ist. Auch dort sind die Punkte zu sehen, in kleinen Mustern angeordnet, die Muster in einer waagrechten Reihe: Buchstaben, die zu Worten werden.
Kampmann ist der erste Unternehmer, dem es gelungen ist, Brailleschrift auf Textilien zu sticken. Knapp 200 Jahre ist es her, dass der Franzose Louis Braille die nach ihm benannte und heute gebräuchlichste Blindenschrift entwickelte. Kleine Punkte werden in festgelegten Kombinationen auf Papier gestanzt, sodass sie auf der anderen Seite mit den Fingern ertastbar sind. So ist es auch blinden und sehbehinderten Menschen möglich, zu lesen.
Auf den Gedanken, auch Stoffe mit der Schrift zu besticken, kam der Unternehmer aus Zufall. Auf der didacta hörte Kampmann am Stand einer Blindenschule das Gespräch einer Mutter mit der Lehrerin mit. Die Mutter klagte, dass die Kinder in der Schule häufig ihre Sportsachen verwechselten, immer wieder bringe ihr blinder Sohn fremde Kleidung heim. In diesem Moment, so erzählt Kampmann es heute, fing es in seinem Kopf an zu rattern. „Ich dachte mir: Wir sticken ständig Namen für sehende Kinder auf Kleidung und Rucksäcke. Warum tun wir das nicht auch für blinde?“ Er ging zur Lehrerin und ließ sich eine Schablone mit dem Braille-Alphabet mitgeben.
Farbe, Muster, Schnitt leichter erkennen
Heute sind die Punkte fester Bestandteil seines Sortiments. Kampmann führt den Familienbetrieb gemeinsam mit seiner Frau Eveline, zehn Mitarbeiter kümmern sich um Produktion und Vertrieb. In den Räumen stapeln sich Hemden, Blusen, Schuluniformen. Eigentlich verdient sein Unternehmen Geld damit, Werbemittel und Firmenkleidung zu besticken.
Je mehr sich Kampmann mit dem Thema textiler Blindenschrift befasste, desto mehr Facetten wurden ihm bewusst. Es ging nicht mehr nur darum, im Gasthaus keine Jacken und im Hallenbad keine Handtücher zu vertauschen. Es ging um ein viel allgemeineres Problem: Wie erkenne ich, welches Kleidungsstück ich in der Hand halte und welche Farbe es hat, wenn ich es nicht sehen kann?
Der Kleiderschrank ist für viele Blinde und Sehbehinderte eine tägliche Herausforderung. Farbe, Muster, Schnitt: Was sich sehenden Menschen in Sekundenbruchteilen erschließt, müssen sie sich mühsam erarbeiten. „Wer in einer funktionierenden Familie aufgehoben ist, kommt zurecht“, sagt Kampmann. Doch für die anderen ist die Auswahl der richtigen Kleidung ein anstrengender Prozess. Wer nicht sehen kann, wird schließlich dennoch gesehen und will nicht durch ein unpassendes Hemd auffallen.
Wer niemanden hat, der helfen kann, muss sich auf die eigene Merkfähigkeit und eine strenge Ordnung verlassen. Jeder Fehlgriff, jeder Waschgang kann das System durcheinanderbringen. Manche Menschen sticken sich Knöpfe in verschiedenen Größen und Formen an die Kleidung und erstellen mit Brailleschrift eine Art Inhaltsverzeichnis, um die Stücke zu identifizieren.
Erfahrungen aus dem Alltag
Andreas Bruder kennt das Problem. Bruder ist der Vorsitzende des Bielefelder Blinden- und Sehbehindertenvereins, er steht Kampmann beratend zur Seite und tauscht sich mit ihm über Anwendungsmöglichkeiten der neuen Technik aus. Vor vielen Jahren wurde der studierte Chemiker bei einer Explosion im Labor von umherfliegenden Glassplittern getroffen und erblindete, gerade mal 28 Jahre war er da alt. "Da hat man eigentlich andere Pläne" sagt er. Heute hat er eine Augenprothese, mit dem verbliebenen Auge kann er noch Hell und Dunkel unterscheiden. Drei Jahre brauchte er, bis er die neue Situation akzeptieren konnte, dann promovierte er – und lernte auch die Brailleschrift.
Er selbst hat Ehefrau und Kinder, die ihm helfen, doch immer wieder bekommt er die Probleme der Alleinstehenden mit. Manche resignieren irgendwann. "Es gibt einige, die zu Schutztechniken greifen und dann etwa nur noch Beige oder Grau tragen", sagt er.
Zwar gibt es inzwischen viele Hilfsmittel für Blinde: Programme, die Texte vorlesen, Smartphones, mit deren Hilfe man Barcodes und Schriften scannen kann. "Aber im Alltag ist die Brailleschrift oft die bequemste Lösung", sagt Bruder. Er hat Aktenordner und Gewürzdosen mit Etiketten und Aufklebern markiert, so dass er sie mit einer kurzen Berührung identifizieren kann. Vor allem aber hat die Schrift einen großen Vorteil gegenüber allen elektrischen Geräten: "Sie braucht keine Energie und ist immer verfügbar."
Beim Thema Kleidung konnte sie bisher dennoch kaum helfen. An Stoffen halten die Etiketten nicht lange. "Zwei, drei Waschgänge", sagt Bruder – "dann sind sie ab." Es gibt Farbscanner, die die Farbe von Stoffen erkennen können, doch die sind oft unzuverlässig und versagen bei Mustern.
Bewegende Kontakte zu Betroffenen
Immer wieder werden neue, auch kleine Probleme an Kampmann herangetragen, an deren Lösung er sich macht. Er hat Mini-Krawatten mit "Rotwein" und "Weißwein" bestickt, die über Flaschenhälse passen. Er hat Strumpfbänder mit Worten wie "Milch" oder "Saft" bestickt, die man über Getränkekartons stülpen kann. Er hat Kontakt zu mehreren Fußballvereinen und kann deren Schals besticken lassen. Als Kampmann erfuhr, dass die Kinder in der Sehbehinderten-Schule noch nie einen Adventskalender hatten, suchte er sich einen Schokoladenpartner und ein Unternehmen, das Brailleschrift auf Kartonagen prägen kann. 1.000 bis 2.000 Exemplare verkauft er inzwischen pro Jahr. Immer im November fahren er und Andreas Bruder mit den neuen Kalendern zur Schule und verteilen sie an die Kinder.
Wie sehr ihn das Thema ganz persönlich anfasst, ist immer wieder zu spüren. Auf einer Messe kam kürzlich ein taubblinder Junge an seinen Stand und berührte aufgeregt die bestickten Stoffe. "Er war ganz aus dem Häuschen", sagt Kampmann. "Er hat ja sonst gar keine Identifikationsmöglichkeit für seinen Kleiderschrank." Da seien auch ihm die Tränen in die Augen gestiegen. "Wie weit das in die Tiefe geht, das berührt mich immer wieder." Gerade für Taubblinde ist Kampmanns Technik eine große Erleichterung. Für sie ist die Brailleschrift besonders wertvoll. Sie können sich nicht so leicht von jemandem etwas erklären, sich keine Worte vorlesen lassen. Wer in Stille und Dunkelheit lebt, für den ist die Berührung die wichtigste Tür zur Außenwelt.
Den Publikumspreis beim Wettbewerb "Mein gutes Beispiel" der Bertelsmann Stiftung hat Kampmann mit seiner Erfindung gewonnen. Ob und wie sehr sich das Stickverfahren auch finanziell lohnen wird, ist ungewiss. Doch selbst wenn ihn die Technik nicht reich machen wird: "Ich hoffe, dass die Betroffenen weiter mit Ideen und Problemen an uns herantreten werden", sagt er. "Das Wichtigste ist, den Menschen zu helfen."
Aufruf
Engagiert sich auch Ihr Unternehmen für die Gesellschaft? Dann könnten Sie der nächste Preisträger bei "Mein gutes Beispiel" sein! Wir freuen uns über Ihre Bewerbung bis zum 31. Januar 2017. Weitere Informationen hier oder auf www.mein-gutes-beispiel.de.