Interview von Anja Tiedge für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2016.
Flüchtlinge sollen Fachkräfte werden
Was bedeutet der Flüchtlingsstrom für unseren Arbeitsmarkt? Was muss sich ändern, damit Flüchtlinge beruflich integriert werden? – Viel, findet Prof. Dr. Holger Bonin. Der Arbeitsmarktforscher stellte sich den Fragen des change Magazins.
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In die Ausbildung der Flüchtlinge investieren – das sollte unser Ziel sein, erklärt Prof. Dr. Holger Bonin, Arbeitsmarkt-Experte am Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung.
change: Prof. Bonin, mit ihrem Satz "Wir schaffen das" hat Bundeskanzlerin Angela Merkel signalisiert, dass Deutschland Flüchtlinge willkommen heißt und ihnen hilft. Schaffen wir es Ihrer Meinung nach, die Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt zu integrieren?
Prof. Dr. Holger Bonin: Im vergangenen Jahr sind nach offiziellen Angaben mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Das klingt erst einmal viel. Wenn man aber bedenkt, dass wir insgesamt 43 Millionen Beschäftigte haben, relativiert sich diese Zahl. Die Erfahrung zeigt, dass der Arbeitsmarkt einen solchen Bevölkerungsanstieg gut verkraftet, obwohl der Staat in der Vergangenheit relativ wenig für die Integration der Flüchtlinge auf dem Arbeitsmarkt getan hat.
Wo gibt es Nachholbedarf?
Bisher gab es kaum Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Flüchtlinge. Das hat sich auf die Beschäftigtenquote ausgewirkt. Von den Flüchtlingen, die ab 1995 nach Deutschland gekommen sind, hatten nach fünf Jahren nur knapp 50 Prozent eine Beschäftigung. Nach 15 Jahren waren es gerade mal 70 bis 80 Prozent. Der Großteil von ihnen erzielt bis heute nur ein niedriges Einkommen. Derzeit sind 25 Prozent der Menschen, die als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, im Gastgewerbe beschäftigt und verdienen dort Niedriglohn. Das ist ein alarmierendes Ergebnis. Erschwerend kommt hinzu, dass ein Großteil der Flüchtlinge gering qualifiziert ist, es in Deutschland aber immer weniger Jobs für Geringqualifizierte gibt.
Wie hoch ist der Anteil Geringqualifizierter unter den Flüchtlingen genau?
Das ist schwer zu sagen, denn der Ausbildungsgrad wird im Asylverfahren nicht erfasst. Es gibt jedoch nicht repräsentative Zahlen, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) 2015 unter den Antragstellern erhoben hat. Demnach hatten 13 Prozent in ihrem Heimatland eine Universität besucht, 18 Prozent hatten eine abgeschlossene Berufsausbildung. Immerhin knapp ein Drittel der Flüchtlinge hat keine formale Ausbildung oder lediglich einen Grundschulabschluss.
Was kann der Staat tun?
Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten. Wir können zum einen versuchen, die Flüchtlinge so schnell wie möglich in Beschäftigung zu bringen. Dann werden sie eher einfache Tätigkeiten zu niedrigen Löhnen ausüben, zum Beispiel im Gastgewerbe. Das ist der Status quo, aus wirtschaftlicher Sicht aber keine optimale Lösung. Die zweite Möglichkeit ist, nichts zu tun und darauf zu setzen, dass die Menschen nicht lange bei uns bleiben. Das ist aus meiner Sicht die schlechteste Variante, denn das untergräbt jede Eigeninitiative der Flüchtlinge, sich in Deutschland etwas aufzubauen. Für den Staat bedeutet das Kosten, denen keine Einnahmen gegenüberstehen.
Und die dritte Möglichkeit?
Wir investieren und bilden die Flüchtlinge zu Fachkräften weiter. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das die beste Variante. In Deutschland gibt es zu wenig Fachkräfte, etwa in der Pflege-, Metall- und Elektronikbranche. Von den Flüchtlingen ist mehr als die Hälfte jünger als 25 Jahre, das heißt, sie stehen am Anfang ihres Berufslebens und sind gut ausbildbar. Natürlich sind mit der Ausbildung zur Fachkraft Kosten verbunden, ihnen stehen jedoch langfristig hohe Steuereinnahmen gegenüber.
Flüchtlinge in Deutschland
Allerdings fehlt es an Räumlichkeiten und Lehrern, um alle Flüchtlinge auszubilden.
Das ist richtig. In meinen Augen ist es jedoch nicht sinnvoll, die Infrastruktur massiv auszubauen. Wenn wir davon ausgehen, dass in Zukunft nicht so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen wie im vergangenen Jahr, hätten wir auf lange Sicht zu viel Personal und Weiterbildungsstätten.
Was ist die Alternative?
Wir müssen so gut es geht auf Ehrenamtliche setzen und die Aus- und Weiterbildung zeitlich entzerren. Die Flüchtlinge können nicht sofort mit der Ausbildung beginnen, sondern müssen warten.
Das kann Wochen oder sogar Monate dauern. In dieser Zeit können sie nicht arbeiten, verdienen kein Geld und zahlen keine Steuern – klingt nicht gerade nach einer optimalen Lösung.
Das mag sein, es ist aber die einzige realistische Möglichkeit. Wir können kurzfristig nicht so viele Weiterbildungsstätten bauen und Lehrer ausbilden, wie nötig wären, um den Ansturm zu bewältigen. Hoch qualifizierte Arbeitnehmer und Fachkräfte auszubilden, geht nicht über Nacht. In meinen Augen ist es wichtiger, den Flüchtlingen überhaupt eine Perspektive auf Integration zu geben, auch wenn sie nicht sofort einen Traumjob bekommen. Da wir momentan nicht genügend Kapazitäten haben, müssen wir Prioritäten setzen.
Wie könnte das aussehen?
Wir brauchen Ausnahmeregelungen, zum Beispiel für Syrer. 90 Prozent ihrer Asylanträge werden genehmigt – deshalb sollten sie mit der Ausbildung oder Stellensuche bereits beginnen dürfen, wenn ihr Asylantrag formal noch nicht genehmigt wurde. Das ist momentan nicht der Fall. Ein Grund dafür ist, dass das BAMF und die Bundesagentur für Arbeit (BA) nicht eng genug zusammenarbeiten.
Die Ämter müssen besser verzahnt werden?
Unbedingt. Das BAMF ist die erste Anlaufstelle für die Flüchtlinge. Hier werden ihre persönlichen Daten aufgenommen, bisher jedoch keine Informationen über Ausbildung und Beruf. Das muss sich ändern. Das BAMF sollte arbeitsrechtliche Daten erfassen dürfen und diese an die BA weitergeben. Je früher wir wissen, was die Flüchtlinge können und was nicht, desto besser.
Dabei gilt die Anerkennung der ausländischen Ausbildungen ohnehin als Problem.
Oft haben die Flüchtlinge keine Papiere, anhand derer sich ihr Ausbildungsstatus feststellen lässt. Und selbst wenn – anhand der Zeugnisse lassen sich die Kompetenzen oft nicht ablesen, denn in vielen Fällen ist das Ausbildungssystem in den Herkunftsländern anders als bei uns. Viele Arbeitgeber sind deshalb bei der Einstellung von Flüchtlingen extrem unsicher.
Können Sie Beispiele für unterschiedliche Ausbildungswege nennen?
Ein "Engineer" etwa ist in vielen Ländern kein studierter Ingenieur wie bei uns, sondern jemand mit einer technischen Ausbildung. Ein anderes Beispiel: Angenommen, ein afghanischer Flüchtling hat keinen Schulabschluss, aber jahrelang eine Autowerkstatt betrieben. Welcher Arbeitgeber würde ihn ohne Abschluss einstellen? Wir müssen deshalb herausfinden, welche Fähigkeiten er hat. Das können die Arbeitgeber nicht alleine stemmen, es sollte Aufgabe der Arbeitsagentur sein. Sie könnte mit den Flüchtlingen Assessment-Center durchführen. Dafür gibt es bereits Konzepte. Zum Beispiel lässt sich relativ einfach mit vier oder fünf Aufgaben das mathematische Verständnis eines Kandidaten überprüfen. Natürlich ist das aufwändig, aber günstiger, als falsch weiterzubilden oder Arbeitgeber mit ausländischen Ausbildungs- und Berufsbezeichnungen zu verwirren.
Die Menschen, die nach Deutschland kommen, wollen hier leben und arbeiten. Inwieweit ist die Integration auch ein Wirtschaftsfaktor?
Natürlich profitieren einige Unternehmen von den Menschen, die zu uns kommen, zum Beispiel die Firmen, die die Unterkünfte bauen, oder Sicherheitsunternehmen. Die Flüchtlinge konsumieren aber größtenteils nicht mit eigenem Kapital. Ihr Konsum ist vom Staat finanziert. Schätzungen zufolge liegen diese Kosten für den Staat bei bis zu 20 Milliarden Euro. Bedenkt man, dass das deutsche Sozialprodukt weit über 2.000 Milliarden Euro beträgt, ist diese Summe nicht sehr hoch. Doch das Geld fällt ja nicht vom Himmel. Mit 20 Milliarden Euro könnte der Staat auch Straßen sanieren oder Steuern senken und damit ebenfalls positive Konsumeffekte erzeugen. Es gibt daher durchaus einen Wachstumsimpuls durch die Flüchtlinge. Dieser ist aus meiner Sicht aber nicht entscheidend.
Gilt dasselbe für den Wohnungsmarkt?
Da könnte sich mehr bewegen. Die Nachfrage der Flüchtlinge nach günstigem Wohnraum erhöht den Druck auf den Mietwohnungsmarkt, der ohnehin relativ starr ist und nicht gut funktioniert. In Ballungsgebieten sind bezahlbare Wohnungen schon jetzt knapp. Neue Häuser zu bauen, dauert jedoch. Deshalb droht die Gefahr, dass die Wohnungspreise in den kommenden Jahren weiter steigen.
In den vergangenen Monaten kamen zudem wiederholt Forderungen auf, den Mindestlohn für Flüchtlinge auszusetzen. Was halten Sie davon?
Speziell für die Flüchtlinge sollte es das nicht geben. Damit hätten sie einen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt als Einheimische in einer vergleichbaren Lage, etwa Langzeitarbeitslose.
Hinzu kommt, dass Flüchtlinge unter viel größerem Druck stehen, sich selbst auszubeuten, weil sie in Deutschland Fuß fassen wollen. Statt den Mindestlohn auszusetzen, plädiere ich daher dafür, Flüchtlinge arbeitsrechtlich so zu behandeln wie Langzeitarbeitslose.
Warum?
Für Langzeitarbeitslose sind die Hürden bei der Jobsuche höher als für den Rest der Bevölkerung. Deshalb bekommen Arbeitgeber, die Langzeitarbeitslose einstellen, einen Lohnkostenzuschuss. Daneben werden Langzeitarbeitslose auch nach der Vermittlung einer Arbeitsstelle vom Jobcenter betreut. Sie helfen ihnen bei Fragen zum Berufsalltag, denn häufig verläuft das Arbeitsverhältnis in den ersten Monaten nicht reibungslos. Beide Maßnahmen wären auch für Flüchtlinge äußerst hilfreich.