Interview geführt von Johannes von Dohnanyi für change – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Beitrag aus change 4/2014.
"Die Muslime erleben medial gerade den Super-GAU"
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, steht für Dialog und Offenheit und bezieht klar Stellung gegen islamischen Extremismus. – Ein Gespräch über das Islambild in Deutschland.
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Rund vier Millionen Muslime leben in Deutschland. Viele seit Jahrzehnten. Und doch ist das Misstrauen gegenüber ihrer Religion allgegenwärtig, wie auch die aktuellen Studien des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung belegen (siehe Seite 67). Die jüngsten Berichte über islamischen Extremismus machen die Situation nicht einfacher. Eine Tatsache, der sich Aiman Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, täglich stellen muss. Wir trafen ihn zum Interview.
change: Herr Mazyek, frei nach Heinrich Heine: Denk ich an Syrien in der Nacht
Aiman Mazyek: … dann sehne ich mich ganz im Sinn des Dichters nach diesem jahrtausendealten und hochzivilisierten Schmelztiegel vieler Kulturen und Religionen, durch den schon Jesus und Paulus wandelten. Wissen Sie eigentlich, dass Syrien mit dem Urchristentum viel mehr zu tun hat als Brandenburg oder Köln?
Die Terroristen des „Islamischen Staats“ wollen diesen Schmelztiegel vernichten …
… diese Barbaren haben meine Religion, ihre Begriffe und Insignien gekidnappt. Aber die Weltgemeinschaft hat viele nicht nur von Isis, sondern auch vom Assad-Regime vernichtete Dörfer und Städte Syriens im Stich gelassen. Hätten wir die Menschenrechte ernst genommen und vor zwei Jahren eine humanitäre Luftbrücke eingerichtet, wäre der übrigens von Assad am Anfang geförderte Isis nie so stark geworden. Ohne Assads Ölquellen hätte Isis nie Leute rekrutieren und Waffen kaufen können, mit denen er sich dann, nachdem zuerst zahllose Sunniten massakriert wurden, im Irak auf Minderheiten wie Jesiden und Christen stürzte.
Ist es für Sie angesichts solcher Tragödien überraschend, dass der Islam im deutschsprachigen Raum kein gutes Ansehen genießt?
Nennen Sie es doch beim Namen. Die Muslime erleben medial gerade den Super-GAU. Was ich in der Presse lese, macht mir selber Angst vor dem Islam. Aber um es ganz klar zu sagen: Leider übernehmen die Schlagzeilen die Islam-Version der Terror-Fanatiker und schüren so den Generalverdacht. Was Isis und andere Terroristen wollen, ist für mich wie für die allermeisten Muslime nicht der Islam.
Da würden Ihnen die selbst ernannten Gotteskrieger von Syrien bis Afghanistan wohl widersprechen.
Und diese Minderheiten sollen dann – und das nach Jahrzehnten der Auseinandersetzung mit dem Islam – für die absolut friedliche Mehrheit der Muslime sprechen? Und obendrein will man uns erklären, dass die ganzen wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Verwerfungen im Nahen Osten allein dem Islam zuzuschreiben sind? Sind wir nach all den Jahren über dieses armselige Niveau von analytischem Rüstzeug noch nicht hinausgekommen?
An einem Punkt kommen Sie aber nicht vorbei: Nur etwa ein Viertel der Deutschen sieht den Islam als Bereicherung. Die Mehrheit betrachtet Ihre Religion – in Abstufungen – eher als Problem.
Und was die Mehrheit der Muslime in Deutschland denkt, sagt und lebt, ist für die Medien offenbar nicht so sexy wie die paar Halbstarken der Scharia-Polizei in Wuppertal. Wir lesen solche Berichte über ein paar durchgeknallte Hooligans seit Jahrzehnten. Da dürfen wir uns nicht wundern, wenn ein Großteil der Gesellschaft Angst vor den Muslimen hat.
Die Muslime als Opfer der bösen Medien. Ist das nicht zu einfach?
Wir sind Opfer von Verallgemeinerungen. Aber die Frage ist doch, was wir Muslime aus dieser Situation machen. Meine Überzeugung ist: Zur Überbrückung dieser Entfremdung müssen wir selber den ersten Schritt tun.
Und was heißt das praktisch?
Wir haben zum Beispiel das Aktionsbündnis „Muslime stehen auf“ ins Leben gerufen. Keine Distanzierungstiraden mehr. Das machen wir schon seit Jahrzehnten. Wir haben stattdessen deutlich gemacht, wofür wir stehen. Wir brauchen Aktionen. Freitagsgebete mit Friedenskundgebungen im Anschluss, zu denen die Mehrheitsgesellschaft eingeladen ist. Dass Politiker und Vertreter der Kirchen zu solchen Veranstaltungen kommen, heißt doch, dass das Signal irgendwie verstanden worden ist. Aber jetzt sollte sich auch die Gesellschaft insgesamt ein Stück bewegen.
Wie meinen Sie das?
Dass unsere deutschen Jungs als Isis-Kämpfer in Syrien und dem Irak vor die Hunde gehen, ist doch kein muslimisches, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem. Die Moscheen haben mehr Angst, dass sich ein Neo-Salafist zu ihnen verirrt und sie dann morgen mit Negativschlagzeilen in der Presse stehen, als davor, dass dieser Mensch im Krieg umkommen könnte. Da ist doch irgendwas kaputt.
Warum sind Sie auf einmal so zornig?
Bin ich das? Vielleicht bin ich ja einfach nur ehrlich, dass ich die Hartnäckigkeit dieses Misstrauensdiskurses gegen Muslime schlichtweg unterschätzt habe. Es macht schon nachdenklich, wenn ein einziger dieser Hooligans ausreicht, um eine ganze Gemeinde zu kriminalisieren. Wenn das unsere Form der Auseinandersetzung ist – Glückwunsch.
Was wollen Sie?
Die Zivilgesellschaft sollte endlich anerkennen, dass die Muslime mit ihr arbeiten wollen. Gleichbehandlung, Anerkennungskultur, Empowerment sind hier einige wichtige Stichworte. Wir müssen gemeinsam an Präventionsstrategien arbeiten, die Jugendarbeit in den Moscheegemeinden verbessern. Wir wollen ja raus aus der Schmuddelecke. Aber ist die deutsche Gesellschaft insgesamt bereit, diese Brücken mit zu bauen?
Vor allem die Älteren misstrauen dem Islam.
Das hat auch damit zu tun, dass es früher zum Beispiel in der Schule viel weniger Berührungspunkte gegeben hat, als das bei der neuen Generation der Fall ist. Ein Stück weit fungieren Minderheiten etwa vor Wahlen auch als Schwarzer Peter. Beim Thema doppelte Staatsbürgerschaft haben wir das in Hessen damals plastisch erleben können.
Und warum gibt es im Osten Deutschlands größere Vorbehalte gegen Muslime als in den westlichen Bundesländern?
Die Angst vor den Anderen ist immer da besonders groß, wo es keine oder nur sehr wenig Andere gibt. Hinzu kommt die ständige Islamisierung sehr komplexer politischer Themen etwa im Nahen Osten, während gleichzeitig gravierende sozioökonomische Defizite bei der muslimischen Bevölkerung sehr oft ausgeklammert werden.
Ist diese Beschreibung nicht sehr einseitig?
Einseitig ist, wenn Necla Kelek (deutschtürkische Soziologin und Publizistin*) bei der Beschreibung gesellschaftlicher Zustände der Migranten in Deutschland ständig auf angebliche religiöse Motivationen verweist und dies unwidersprochen in den Medien verbreiten kann. Religion ist sicher ein Faktor, aber nicht der alleinige. Dieser Diskurs passt zwar in unsere religionsskeptische Ära, ist aber, wie gesagt, kaum analytisch und schon gar nicht lösungsorientiert.
Sie würden es also nicht als einen Hinderungsgrund für die Integration betrachten, dass zumindest ein Teil der hiesigen muslimischen Bevölkerung an der im Islam gebotenen Einheit von Religion und Politik festhält?
Ich kann das, was Sie da sagen, nicht teilen. Denn was die Trennung von Staat und Religion angeht, ist die ja auch in Deutschland nicht so strikt, wie viele meinen. Und das sind dann oft auch noch diejenigen, die dem Muslim von oben herab ein modernes Staatswesen nahebringen wollen.
Die Frage zielte weniger auf die Situation in Deutschland als auf die Vorschriften des Koran ...
Im Koran wie in den Sprüchen des Propheten sind Hinweise auf konkrete Staatsformen sehr rar. Aber das liegt doch nicht daran, dass Gott das vergessen hat. Sondern die Menschen sollen ihren Verstand einschalten und selber Konzepte entwickeln. Für mich ist eine parlamentarische oder eine präsidiale Demokratie in einem muslimischen Kontext nicht nur vorstellbar, sondern konstitutiv.
Die Politik und die Schura, das theologische Beratergremium, sind im islamischen Staat also zwei voneinander unabhängige Institutionen?
Nur einmal in der Geschichte des Islam war ein religiöser zugleich auch politischer Führer. Das war der Prophet selbst. Danach gab es immer eine gewisse Trennung zwischen dem politischen Kalifat und den Rechtsgelehrten.
Aber sind es nicht genau diese Rechtsgelehrten, die sich immer wieder in das politische Alltagsgeschäft einmischen?
Und wo ist da das Problem? Wenn Kirchenführer hierzulande sagen, dass die Kirche sich einmischen muss, dann findet man das in Ordnung. Das wird auch ein Stück weit erwartet. Wir brauchen also Einmischung, aber keine Belehrung und Bevormundung.
Aber die deutschen Kirchen schreiben der Politik nicht die Richtung vor.
Ich bin im Sinne Montesquieus für eine gesunde Trennung zwischen Religion und Staat. Ich verstehe das Prinzip der Gewaltenteilung als große Errungenschaft. Und ich wüsste nicht, warum Muslime das nicht implementieren könnten.
Wenn es in diesem Bereich also keine Konflikte gibt – wo denn dann?
Unrecht muss beseitigt, himmelschreiende Ungerechtigkeit in vielen muslimischen Ländern ausgetilgt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker anerkannt werden. Die Muslime kapieren auch, dass viele der muslimischen Länder eine geistige, kulturelle und zivilisatorisch tiefe Depression durchmachen. Übrigens nicht wegen ihrer Religion, sondern weil sie aus ihrem Erbe und den Werten des Glaubens und der Kultur nichts machen.
Was genau meinen Sie mit Depression?
Ach, wissen Sie, wir können uns Abend für Abend über die Errungenschaften der Araber, der Perser und der Inder unterhalten. Das sind schöne Abende. Aber die Überwindung der derzeitigen geistigen Armut und Blutleere muss schon aus uns selber kommen, und das kann ich nicht machen, wenn ich in der Vergangenheit verweile. Wie immer das später einmal heißen wird, islamische Aufklärung, Revitalisierung oder Dynamisierung, ist mir dabei nicht so wichtig.
Aufklärung ist ein schönes Wort. Worüber wollen Sie die Muslime denn aufklären?
Zum Beispiel darüber, dass unsere Religion von irgendwelchen Diktaturen verhaftet worden ist. Oder über diesen wahnsinnigen Wildwuchs an Halbwissen gerade bei den Neo-Salafisten. Viele Muslime haben auch nicht kapiert, dass sie in vielen nicht-muslimischen Ländern mehr Freiheiten haben, ihren Islam zu lernen und zu praktizieren, als in vielen muslimischen Ländern.
Und jetzt kommt sicher ein großes Aber?
Stimmt. Aber viele Menschen hierzulande haben weder das Zutrauen noch die Geduld, die Muslime ihren Reformweg selber wählen zu lassen. Aber nur so wird es gehen: Die Veränderungen müssen aus der Mitte der Muslime selber kommen.
Statt Reformen entsteht manchmal der Eindruck, die Integrationsbereitschaft mache Rück - statt Fortschritte. Ein Stichwort: gemeinsamer Schwimmunterricht …
Zehn Jahre Aufregung, bis eine wissenschaftliche Untersuchung ergab, dass dieses Thema 1,5 Prozent aller muslimischen Mädchen betrifft.
Dann versuchen wir es mal mit der Rolle der Frau im Islam?
Tolle Frage und äußerst selten gestellt. Aber im Ernst, in vielen muslimisch geprägten Gesellschaften wird den Frauen natürlich sehr viel Unrecht angetan. Patriarchale Strukturen und Unterdrückung, die am besten gedeihen, wenn der Zugang zu Bildung und vor allem auch das Wissen fehlen, dass der Islam dies keineswegs billigt, sondern im Gegenteil die Gleichberechtigung von Mann und Frau vorschreibt.
Das haben Sie sehr schön formuliert. Aber die Umfragen zeigen: Die Mehrheit der Deutschen nimmt Ihnen Ihren weichgespülten Islam dennoch nicht ab.
Das ist das Ergebnis des jahrealten Extremismusvorbehaltes gegenüber dem Islam. Im Übrigen habe ich hier keinen weichgespülten Islam erklärt, sondern einen, den die meisten der Muslime weltweit – zumindest die, die in Freiheit leben – praktizieren.
Würde das Misstrauen gegen den Islam abnehmen, wenn etwa die Freitagsgebete in deutscher Sprache abgehalten würden?
Das geschieht schon in etwa der Hälfte der Moscheen. Und die Zahl wird steigen. Aber nicht zur besseren Kontrolle, sondern weil wir die jüngere Generation in einer Sprache erreichen müssen, die sie auch versteht. Verstehen hat immer auch etwas mit Mentalität und Integration zu tun.
Und wie wollen Sie diese mentale und kulturelle Kluft überwinden?
Ich wünsche mir zum Beispiel, dass wir mehr Imame und Imaminnen hier in Deutschland ausbilden. Die sind dann hier zu Hause und kennen die Mentalität der Menschen und die Gesellschaft besser, in der sie arbeiten und agieren. Damit würden wir auch das Zutrauen der Gesellschaft in die Gemeinden stärken. Aber das geht nicht, indem man den Muslimen immer nur Vorhaltungen macht. Da sind viele Akteure gefragt.