Spielender Junge

Prävention verankern - Verfassungsrechtliche Konsequenzen aus dem Verbot der Benachteiligung aufgrund sozialer Herkunft

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Christina Wieda
Senior Project Manager

Prävention verankern

Der Sozialstaat steht vor Herausforderungen, die die Mütter und Väter der Verfassung nicht antizipieren konnten!

Seit dem Start von „Kein Kind zurücklassen!“ erforschen wir gemeinsam mit Kooperationspartnern, wie gute Bedingungen für den Aufbau kommunaler Präventionsketten geschaffen werden können. Ergänzt werden bereits vorliegende Ergebnisse nun um den verfassungsrechtlichen Aspekt: Was müsste sich ändern, damit Kinder und Jugendliche in allen deutschen Kommunen gemäß ihrer individuellen Bedarfeverbindlich auf Unterstützung in jeder Phase ihres Lebens zählen können?

Der Sozialstaat steht vor Herausforderungen, die die Mütter und Väter der Verfassung nicht antizipieren konnten. Nicht einzelne, sondern kumulierte Problemlagen, insbesondere in benachteiligten Stadtvierteln, prägen die Teilhabe-Chancen vieler Kinder und Jugendlicher. Das berührt auch ihre Grundrechte.

Das Rechtsgutachten fragt nach der Verwirklichung von Teilhabe und Bildungschancen und prüft, ob Prävention ein Verfassungsauftrag auf Basis des Art. 3 Abs. 3 GG, Verbot der Benachteiligung auf Grund der Herkunft, sein könnte.

Der mehrfach wissenschaftlich belegte Zusammenhang von Armut, Elternhaus und verminderten Teilhabe- und Bildungschancen weist auf eine systemimmanente Verletzung des Grundrechts auf Gleichbehandlung hin. Das Gebot „schichtenspezifische Ungleichheiten der Bildungschancen“ abzubauen, lässt sich demnach durchaus ableiten.

Was berücksichtigt die Verfassung nicht?

Neben der individuellen Diskriminierung auf Grund der sozialen Herkunft berührt gesamtgesellschaftlich gesehen der Zusammenhang auch den Aspekt des demographischen Wandels und die Folgen auf die umlagefinanzierten Sozialversicherungen sowie den Fachkräftemangel. Das deutsche Grundgesetz kennt Normen, die die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die soziale Sicherung, die demokratische Ordnung, das Gemeinwohl sowie die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit auch zukünftig sichern sollen. Soziale Aspekte sind in diesem Kontext bisher jedoch wenig berücksichtigt.

Damit die Vererbung von (Bildungs-) Armut unterbrochen wird, sollte der Staat universal-progressiv - also sowohl Ressourcen als auch Bedarfe berücksichtigend - Familien und Kinder individuell unterstützen. Ein solches Vorgehen würde nicht in den verfassungsrechtlich garantierten Schutz der Familie eingreifen, sondern die Fürsorgepflicht des Staates über ein zielgerichtetes Verwaltungshandeln betonen.

Fällt es in die Kompetenz des Bundes, über kommunale Präventionsketten der Ungleichbehandlung entgegen zu wirken?

Davon ist auszugehen. Fürsorge liegt gemäß Art. 74 Nr. 7 GG in der Zuständigkeit des Bundes. Die Frage bezüglich der Schnittstellen zum Bildungsbereich, der den Ländern obliegt, ist im Kontext von vorschulischer Bildung und Erziehung, Jugendpflege und Jugendhilfe höchstrichterlich geklärt.

Sind kommunale Präventionsketten in Bundeskompetenz auch verwaltungsrechtlich zulässig?

Die Frage lässt sich rechtlich nicht eindeutig klären, daher entwickelt das Gutachten ein Modell zur Koordination präventionsrelevanter Leistungen analog zu den gemeinsamen Einrichtungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende in Art. 91e GG und §§ 6 und 44b SGB II. Die sogenannte Präventionsagentur fungiert als Ansprechpartner für Eltern und Fachkräfte, hat eine Lotsenfunktion, koordiniert Leistungen gemäß den Büchern des Sozialgesetzbuches, die in den Kommunen erbracht werden sowie Projekte und wird vom Bund finanziert. Sie steht mit der verfassungsrechtlichen Selbstverwaltungsgarantie im Einklang, so dass die spezifische Ausrichtung in der Zusammenarbeit mit den Ämtern wie auch mit Blick auf die Bedarfe vor Ort ausgestaltet werden können.

Untergesetzliche Koordination

KeKiz und viele andere Projekte setzen auf untergesetzliche Koordination in Kommunen, vom Kind, vom Menschen oder von der Sache her administriert. Das kann gelingen, hängt aber vom politischen Willen, kommunalen Ressourcen, der Organisationkultur in der Kommune mit ihren einzelnen Ämtern sowie den Fähigkeiten aller beteiligten Akteure ab. Für die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen bedeutet das: Ihre Entwicklungs- und Bildungschancen hängen entscheidend davon ab, in welche Familie sie hineingeboren werden und in welcher Kommune ihre Familie lebt. Die aktuelle Diskussion um die Folgen der Corona-Pandemie, die eine weitere Minderung der Teilhabechancen für benachteiligte Kinder deutlich zutage treten lässt, unterstreicht die Dringlichkeit eines anderen Vorstoßes, um der Benachteiligung entgegen zu wirken.

Lesen Sie auch zu diesem Thema unseren Blog-Beitrag.

Änderungsbedarfe in der Sozial- und Finanzverfassung: Bertelsmann Stiftung (bertelsmann-stiftung.de)