Faszination und Freundschaft

Eine gegenseitige Anziehung scheint es zu sein, die Deutsche nach Israel und vor allem Israelis nach Deutschland lockt, Freundschaften begründet und wirtschaftliche wie kulturelle Erfolgsgeschichten schreibt.

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Text von Sebastian Engelbrecht für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2015. Gekürzte Fassung.

Deutschland scheint Israelis auf merkwürdige Art anzuziehen wie umgekehrt Israel so viele Deutsche. Warum sind in Tel Aviv Passanten mit Jacken und Taschen zu sehen, auf denen in großen Buchstaben "Berlin" steht? Noch mehr überraschte mich ein etwa 30-jähriger Israeli, der ein T-Shirt mit der Aufschrift "VW-Transporter" zur Schau trug. Und selbst die Trainingsjacke des "Tennisclub Iffezheim" schien einer Israelin spannend und interessant genug, um allen ihre philogermanische Ader kundzutun.

Ich kann die Zahl der Freunde kaum zählen, bei denen sich aus der gegenseitigen Anziehung mit der Zeit ein alltägliches Miteinander entwickelt hat. Dass ich ein Deutscher bin, spielt in diesen Freundschaften keine Rolle mehr – wenn überhaupt, kommt es gelegentlich in Form von süffisanten Anspielungen vor. Zu diesen Freunden gehören Lilach und Naftali, ein Tel Aviver Paar. Eines Tages machten sie mir ein Geschenk, das mich immer wieder in Staunen versetzt: das Buch "Die Kunst des Krieges" von Sun Tzu.

Sun Tzu war ein chinesischer General und schrieb seine Weisheiten über den Krieg vor etwa 2.500 Jahren nieder. Das Geschenk ist mithin eine Aufforderung, die alten Tugenden des alten Deutschlands nicht völlig zu vergessen: die Tugend der strategischen Selbstbehauptung. Lilach erklärt mir das Geschenk mit diesen Worten: Aggressivität gehöre zum Leben.

An dieser Stelle wird bei aller Anziehung eine Differenz zwischen Israelis und Deutschen deutlich. Die einen bilden ein Kollektiv, das auf die Macht der Armee vertraut und damit seine Existenz absichert. Die anderen sind ein Kollektiv von mehrheitlich Kriegsüberdrüssigen, das bis heute von den Schlachten der Väter, Großväter und Urgroßväter genug hat. Trotz dieser Differenz bleiben die besonderen Anziehungskräfte zwischen Deutschen und Israelis spürbar. Was nützen mir aber diese Kräfte, seit ich nicht mehr in Israel lebe? Zu meinem Trost hat sich in Berlin eine erstaunlich große Gemeinde von Israelis angesiedelt. Tatsächlich hört man vom Tauentzien bis zum Gendarmenmarkt immer häufiger Hebräisch.

Als ich vor zwei Jahren mit der Familie von Tel Aviv nach Berlin zurückkehrte, nahm ich den Weg, den in diesen Jahren viele Israelis einschlagen: den Weg nach Berlin. Tausende, vielleicht Zehntausende haben Berlin als ihre Heimat ausgewählt. Manche kommen für Monate, andere für Jahre, wieder andere gründen in Berlin eine Familie und wollen bleiben.

Niemand weiß so genau, wie viele Israelis in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren nach Berlin gezogen sind. Viele haben einen deutschen oder anderen europäischen Pass. Sie tauchen deshalb in keiner Ausländer-Statistik auf. Die israelische Botschaft teilt mit, die Zahl liege bei 10.000 bis 15.000. Es zieht sie aus ganz unterschiedlichen Gründen in die Stadt. Berlin ist so multikulturell wie Israel, in Berlin ist das Leben bezahlbar, in Berlin können Künstler eher von ihrer Kunst leben als in Jerusalem.

Berlin ist wie ein Kurort

Für viele ist die deutsche Hauptstadt fast wie ein Kurort – und doch nicht provinziell. Das findet zum Beispiel Eitan Ben Hadad, 42 Jahre alt, Solarenergie-Unternehmer in Berlin: "Einer der Gründe, die mich hier angezogen haben, ist die Ruhe. Es gibt keine Staus, keine Alarmsirenen, keinen Stress. Der Verkehr ist unter der Erde, und man sieht das alles nicht." Die kühle Art der Deutschen stört ihn nicht. Eitan gefällt, dass sich in Berlin keiner in sein Leben "drängt". In Berlin kann er ein "privates" Leben führen – was in Israel praktisch unmöglich ist. "In Israel musst du eine Familie mit zwei oder drei Kindern haben, sonst stimmt was nicht. Wegen der demographischen Bedrohung und so weiter. Ich will nach meinen Bedingungen leben, wann ich es will und ob überhaupt und nicht, weil ich muss oder so."

Er habe sich in die Stadt verliebt, sagt Eitan – nicht nur wegen des Lebens in Privatheit. Es ist auch die größere wirtschaftliche Freiheit, die ihm in Berlin gefällt. Die israelische Wirtschaft empfindet er als isolierten, verfilzten Markt, dem es an Dynamik fehle.

Der israelische Absatzmarkt ist eng, das Land ist klein und überbevölkert, die Entfaltungsfreiheiten sind entsprechend gering. So fanden israelische Immobilien-Unternehmer die Hauptstadt und Kultur-Metropole Berlin vor zehn Jahren als unbeackertes Feld mit erstaunlich tiefen Preisen in der Mitte Europas vor. Zu diesen Unternehmern gehört Uri Goldenzeil. Seit 2006 macht er in Berlin mit Immobilien Geschäfte. Er baut Häuser, er kauft, saniert und verkauft sie wieder. Dabei macht er auf dem wachsenden Berliner Markt einen stattlichen Umsatz: mehr als 500 Millionen Euro in den vergangenen neun Jahren.

Goldenzeils Büro ist ein bescheidenes Ladengeschäft in Berlin-Friedenau. Er hat drei Mitarbeiter, man duzt sich. Für den 66-jährigen Goldenzeil ist das Abenteuer Berlin Neuland. In Israel hat er früher Textilien produziert, Küchen importiert und eine Kette für "Frozen Yoghurt"-Läden aufgebaut. Dann verkaufte er sein Haus in Israel und zog nach Berlin. Vor zwei Jahren folgte ihm die Familie.

„Berlin ist der sicherste Ort für Israelis und Juden in der ganzen Welt.“

Uri Goldenzeil, Immobilienmakler

Uri Goldenzeil wohnt im Bayerischen Viertel in Berlin-Schöneberg. Dort erinnern Schilder an den Straßenlaternen an die rassistischen Gesetze der Nationalsozialisten. Die Stadt lässt es nicht zu, das dunkelste Kapitel zu vergessen, das Deutsche und Israelis trennt und verbindet. Jeden Tag denke er an diese Zeit, sagt Uri. Die Schilder im Bayerischen Viertel deutet er aber als "gutes Zeichen, ein gutes Omen, dass die schlimmste Sache am Ende gut werden kann. Vielleicht wird das auch mal ein Zeichen für unsere Region, dass auch dort mal Frieden werden kann."

Heute gibt es in Berlin neben der jüdischen auch eine eigenständige israelische Gemeinde. Es gibt Bars, Cafés und Restaurants, die Israelis gehören. Sie haben Galerien und Boutiquen für Schuhe oder Accessoires eröffnet. Israelische Psychologen bieten ihre Dienste an, auch Webdesigner, Versicherungsmakler, Wohnungsvermittler und sogar eine Bäckerei.

Die in Israel übliche Unkompliziertheit in den Begegnungen mit Deutschland und den Deutschen hat sich auf Berlin übertragen. Die Israelis machen eine neue Unbefangenheit in den Begegnungen von Juden und Nichtjuden möglich.

Deutsch-Israelischer Chor

Anders als Uri Goldenzeil investiert Ohad Stolarz vor allem in die Musik. Vor zwei Jahren kam er aus Tel Aviv nach Berlin. Er hatte Schule und Militärdienst hinter sich. Zunächst lernte er Deutsch. Jetzt, als 25-Jähriger, bereitet sich Ohad auf die Aufnahmeprüfung im Fach Chor-Dirigieren vor. Als künftigen Studienort wählte er – zusammen mit seiner Freundin – Berlin aus, weil es sich um eine "große, wichtige Stadt in Europa" handelt und weil "hier musikalisch viel los ist".

Anfang 2014 gründete Ohad Stolarz den "Hebräischen Chor Berlin", in dem 20 Israelis und Deutsche gemeinsam singen. Einmal in der Woche treffen sie sich in einem evangelischen Gemeindehaus in Mitte zur Probe. Zum Repertoire gehören hebräischsprachige Stücke aus den verschiedensten Epochen.

„Der Chor ist ein großes Wunder, das uns hier geschah.“

Ohad Stolarz, Gründer des Hebräischen Chors Berlin