Gruppe diskutierender Jugendliche

Fragt uns – Kinder und Jugendliche ins Boot holen!

Was beschäftigt Kinder und Jugendliche in Deutschland und was brauchen sie für ein gutes Aufwachsen? Diesen Fragen geht die Studie Children’s Worlds+ nach, die das Projekt „Familie und Bildung“ gemeinsam mit den Autorinnen der Goethe-Universität Frankfurt am 4. Juli auf der Tagung „Fragt uns – Kinder und Jugendliche ins Boot holen“ in Berlin vorgestellt hat. Mit dabei: Das JugendExpert:innenTeam des Projekts, das die Veranstaltung mit konzipierte und mit durchführte.

Foto Antje Funcke
Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung
Foto Sarah Menne
Sarah Menne
Senior Project Manager

Inhalt

Erwachsene sollten Kindern und Jugendlichen auf Augenhöhe begegnen, ihnen mehr zutrauen und sie konsequent beteiligen. Mit diesem leidenschaftlichen Appell begrüßte Lea Leidig vom JugendExpert:innenTeam der Bertelsmann Stiftung die 120 Gäste aus Politik, Verwaltung, Wissenschaft und Verbänden. Gemeinsam mit den Frankfurter Studienautorinnen um Prof. Sabine Andresen und dem Projektteam der Stiftung hatte das JugendExpert:innenTeam in die Botschaft für Kinder in Berlin eingeladen. Ziel der Tagung war es, die Ergebnisse der Studie Children’s Worlds+ vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren, wie die Stimmen und Perspektiven von Heranwachsenden in Zukunft besser berücksichtigt werden können. Moderiert wurde die Tagung von Johannes Büchs, Fernsehmoderator bei KIKA.

Fehlende Mitbestimmungsmöglichkeiten in Schule und Politik

Zu Beginn der Veranstaltung gab Prof. Sabine Andresen einen Überblick über die wichtigsten Ergebnisse der repräsentativen Kinder- und Jugendstudie Children’s Worlds+ (die Präsentation finden Sie hier). Die Studie zeigt, dass Selbst- und Mitbestimmung ein zentrales Thema für Kinder und Jugendliche in Deutschland ist. Sie macht aber auch deutlich, dass junge Menschen sich häufig nicht ernst genommen und nur unzureichend beteiligt fühlen. Besonders in der Schule und der Politik bemängeln sie fehlende Möglichkeiten gehört zu werden und mitgestalten zu können.

Besorgniserregend ist, dass mehr als die Hälfte aller Kinder und Jugendlichen angeben, im letzten Monat gehänselt, ausgegrenzt oder absichtlich gehauen worden zu sein. „Schulen dürfen mit diesem Problem nicht allein gelassen werden“, forderte Andresen. Kinder und Jugendliche sollten sich an Schulen sicher fühlen – dafür benötigen sie vertrauensvolle Ansprechpersonen, an die sie sich wenden können.

Obwohl die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen materiell gut versorgt ist, machen sich rund 52 Prozent der Befragten Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie – gerade diese Kinder und Jugendlichen erfahren häufiger Ausgrenzung und Gewalt und sind in ihrer Teilhabe eingeschränkt. Diese Gruppe gelte es besonders in den Blick zu nehmen und durch finanzielle Leistungen und Angebote gezielt zu unterstützen, forderte die Wissenschaftlerin. 

Teilnehmer:innen und Jugendliche diskutieren in Workshops

Im Anschluss diskutierten die Teilnehmer:innen in zwei Arbeitsphasen in jeweils fünf thematischen Workshops die Ergebnisse der Studie. Den Mitgliedern des JugendExpert:innenTeams kam dabei eine besondere Rolle zu: In den vergangenen Monaten hatte sich das Team intensiv mit der Studie beschäftigt und mit den Forscherinnen über Fragebogen und Auswertungen gesprochen. In den Workshops stellten die Jugendlichen ihre Interpretationen zu den Ergebnissen der Studie vor und formulierten Forderungen an Politik und Gesellschaft. Dazu nutzten sie eine Vielzahl unterschiedlicher Methoden – unter anderem eine Schreibwerkstatt, ein Haltungsbingo und ein Kinderrechtequiz.

Die einzelnen Workshops im Detail:

1. Mit Kindern und Jugendlichen sprechen, statt über sie – Eine Frage der Haltung?

Gibt es ein Haltungsproblem von Erwachsenen gegenüber Kindern und Jugendlichen? Wie gelingt es, dass sie junge Menschen ernst nehmen und ihnen auf Augenhöhe begegnen? Diese Fragen diskutierten Lejla Dokso, Edanur Gözgec, Lea Leidig und Julia Wisniewski (Mitglieder des JugendExpert:innenTeams) mit den Teilnehmenden des Workshops.

Dabei näherten sie sich dem Thema mithilfe von interaktiven Spielen und Methoden. Nach einer kurzen Reflexion was „gute Haltung“ gegenüber Kindern und Jugendlichen für die Teilnehmer:innen heißt, luden die vier Jugendlichen zu einer Runde „Haltungsbingo“ ein. An vier Tischen wurden anschließend Thesen diskutiert, die zum Nachdenken und Reflektieren anregen sollten.

In den Diskussionen wurde deutlich, dass Kinder und Jugendliche die Haltung von Erwachsenen oft als zentrales Hindernis für eine wirkliche Beteiligung wahrnehmen. Sie wünschen sich, dass Erwachsene weniger für Kinder und Jugendliche machen, sie stattdessen von vorneherein einbeziehen, fragen und gemeinsam mit ihnen entscheiden. 

2. Rechte, Beteiligung und gute Interaktionen – Wie kommen Kinder und Jugendliche zu ihrem Recht?

Kinder und Jugendliche kennen ihre Rechte zu oft nicht oder zumindest nicht sicher. Je älter sie werden, desto stärker haben sie den Eindruck, dass sie in der Schule nicht beteiligt werden und mitbestimmen können. Gerade in der Pubertät verstärkt sich das Gefühl, von Erwachsenen nicht ernst genommen zu werden.

Diese zentralen Befunde aus Children’s Worlds+ wurden in dem Workshop von Dr. Veronika Magyar-Haas einleitend hervorgehoben (die Präsentation finden Sie hier). Mirko Cresnar und Sascha Stahn haben mit den Workshopteilnehmer:innen darauf aufbauend ein „kleines Quiz zu Rechten, Beteiligungen und guten Interaktionen“ gespielt und ihre Interpretationen und Forderungen in diesem Themenfeld vorgestellt (die Präsentation finden Sie hier).

Gemeinsam mit den Teilnehmer:innen wurde diskutiert, welche Aufgabe gerade der Schule bei der Vermittlung von Kinderrechten und dem Erleben von „echter“ Beteiligung zukommt. Ziel muss es in jedem Fall sein, einen „Hype“ um Kinderrechte in unserer Gesellschaft entstehen zu lassen, damit Kinder und Jugendliche ihre Rechte kennen, erfahren und sich ernst genommen fühlen.

3. Zugänge zu guter und bedarfsgerechter Infrastruktur – Was macht Schule für Kinder und Jugendliche aus?

Schule ist für Kinder und Jugendliche ein zentraler Lebensort. Mehr als die Hälfte aller Schüler:innen hat jedoch bereits Erfahrungen mit Übergriffen gemacht, wurde gehänselt, ausgegrenzt oder absichtlich gehauen. Kinder und Jugendliche, die sich Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Eltern machen, sind dabei besonders häufig von Ausgrenzungs- und Gewalterfahrungen betroffen.

Zu Beginn des Workshops stellten Nadja Althaus und Josephine Löschner, wissenschaftliche Mitarbeiterinnen der Goethe-Universität Frankfurt, diese zentralen Ergebnisse der Studie vor (die Präsentation finden Sie hier). Was Mobbing für die Betroffenen bedeutet und welche Folgen es haben kann, machten Viktoria Lizo, Maricel Borowski und Devrim Celik aus dem JugendExpert:innenTeam anhand eines YouTube Videos sowie Kommentaren von betroffenen Nutzer:innen deutlich. Sie forderten, dass Schule nicht nur aus Unterricht bestehen darf, sondern auch das soziale Zusammenleben in den Blick nehmen muss (alle Forderungen des JugendExpert:innenTeams finden Sie hier).

Die Teilnehmer:innen diskutierten anschließend, wie Betroffenen geholfen werden kann und was die Befunde für die Bildungsinstitution Schule bedeuten. Betont wurde, dass Kinder und Jugendliche in der Schule vertrauensvolle Ansprechpersonen brauchen, an die sie sich bei Bedarf wenden können. Einig waren sich die Teilnehmer:innen zudem, dass weitere Forschung nötig ist und sich wirksame Maßnahmen eng an den Bedarfen der Kinder und Jugendlichen orientieren müssen.

4. Zeit, Zuwendung und Fürsorge – Was wünschen sich Kinder und Jugendliche?

Warum wird die Zeit schon für Jugendliche zum knappen Gut? Warum fühlen sich Kinder und Jugendliche nicht ausreichend unterstützt durch Lehrer:innen und Mitschüler:innen? Zu diesen Fragen präsentierte Dilan Cinar, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt, vertiefende Ergebnisse aus Children’s Worlds+ (die Präsentation finden Sie hier)

Danach luden Blerta Morina, Emily Sawatzki und Özgür Kar aus dem JugendExpert:innenTeam die Teilnehmer:innen ein, sich mit Hilfe einer Schreibwerkstatt Gedanken dazu zu machen, wie die Bedarfe nach Zeit, Zuwendung und Fürsorge für Kinder und Jugendliche heute aussehen. Im Anschluss formulierten die Jugendlichen konkrete Forderungen (ein kurzes Thesenpapier finden Sie hier), z. B.

  • Erwachsene müssen ihnen mehr zuhören und sich intensiver mit ihnen auseinandersetzen, damit ein gutes Miteinander und Vertrauen entstehen können.
  • Gerade in der Jugendphase sollten Eltern auch zugewandt bleiben, wenn Kinder mal eine Zeit lang „ihr eigenes Ding machen“ und nicht auf die Eltern hören.

In der Diskussion wurde schnell klar, dass Schule anders gestaltet werden müsste, damit das Bedürfnis der Kinder nach Vertrauenspersonen und einem guten Miteinander im Klassenverband besser umgesetzt werden kann als bislang. Kritisch blickten die Teilnehmenden auch auf den zunehmenden Zeitdruck – sowohl auf Eltern und Lehrer:innen, aber auch auf die jungen Menschen selbst, die neben Schule als „Vollzeitjob“ noch viele andere Aktivitäten und Pflichten haben.

5. Absicherung finanzieller Bedarfe – Was brauchen Kinder und Jugendliche für echte Teilhabe?

In Deutschland ist fast jeder vierte junge Mensch von Armut betroffen. Zwar geben die meisten Heranwachsenden an, dass sie gut mit wichtigen Gütern versorgt sind. Wer sich häufig Sorgen um die Finanzen seiner Familie macht, erlebt allerdings deutliche Einschränkungen bei der gesellschaftlichen Teilhabe. Diese zentralen Befunde aus Children’s Worlds+ präsentierte Tatjana Dietz, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Goethe-Universität Frankfurt (die Präsentation finden Sie hier).

Um zu verdeutlichen, was es heißt in Armut aufzuwachsen, baten Amir Sallachi und Fabian Lamshöft aus dem JugendExpert:innenTeam die Teilnehmer:innen zu schätzen, wie hoch in den SGB-II-Regelsätzen für ein Kind die vorgesehenen Beträge z. B. für Bildung sind. Sie unterstrichen, dass die Leistungen nicht nur zu gering, sondern auch willkürlich und zu bürokratisch sind.

In der sich anschließenden Diskussion wurde unter anderem die Frage beleuchtet, wie es gelingen kann, allen Kindern und Jugendlichen echte Teilhabe zu ermöglichen. Die Teilnehmenden diskutierten dabei unterschiedliche Reformvorschläge, hoben Stärken und Schwächen hervor. Einig waren sich die Teilnehmenden jedoch, dass es entscheidend ist, mehr Wissen darüber zu erhalten, welche Bedarfe Kinder und Jugendliche in verschiedenen Altersgruppen überhaupt haben – dazu sollten sie auch selbst befragt werden.

Was heißt das für die Politik?

Zum Abschluss der Tagung fassten Politiker:innen, die in der zweiten Workshop-Phase berichtet und mitdiskutiert hatten, die Workshops zusammen und kommentierten die Ergebnisse der Studie mit Blick auf ihre politische Arbeit.

Auf dem Podium saßen Marcus Weinberg (CDU), Katja Mast (SPD), Daniel Föst (FDP), Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) und Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN). Schnell wurde deutlich, dass alle Politiker:innen die Befragung und Beteiligung von Kindern und Jugendlichen unerlässlich finden. Mit Blick auf die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wurde diskutiert, welche Rolle die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz oder eine Absenkung des Wahlalters spielen kann. Darüber hinaus nahm das Thema Kinderarmut viel Raum ein. Gerungen wurde dabei darum, wie ein grundlegender Systemwechsel in der Familienpolitik aussehen muss, um eine materielle Absicherung aller Kinder und Jugendlichen zu erreichen.

Publikationen

Cover "Fragt uns"

JugendExpert:innenTeam im Projekt "Familie und Bildung: Politik vom Kind aus denken"