Asia Briefing 16. Mai 2017

Die China Story – ein Fall von "fake history"?

Die Kommunistische Partei Chinas unternimmt große Anstrengungen, die Vergangenheit neu zu schreiben und ihre eigene Erzählung der chinesischen Geschichte zu etablieren. Diese "China Story" ist eine der mächtigsten politischen Erzählungen unserer Zeit, aber sie ist im Wesentlichen falsch, so der Historiker Frank Dikötter bei unserem Asia Briefing am 16. Mai in Berlin.

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Dr. Peter Walkenhorst
Senior Project Manager

Ein alter kommunistischer Scherz besagt: Marxisten können zwar die Zukunft vorhersagen, aber nicht so leicht die Vergangenheit. Einparteienstaaten schreiben ihre eigene Geschichte ständig um, mit dem Ziel, so die Gegenwart zu legitimieren. China ist das jüngste Beispiel für diese Praxis: Auf der Suche nach politischer Legitimität wird eine neue Art von Nationalismus konstruiert, der in hohem Maße auf historischen Argumenten basiert.

Vor diesem Hintergrund sprach Frank Dikötter, Professor für Geschichte an der Universität Hongkong und einer der renommiertesten Kenner der modernen chinesischen Geschichte, bei unserer Veranstaltungsreihe "Asia Briefing" im Rahmen des Berliner Asien-Pazifik-Wochen über die "China Story" der herrschenden Kommunistischen Partei. In Kurzform lautet deren Erzählung der Geschichte Chinas: Das einst glorreiche Land war im Elend gefangen und wurde von ausländischen Mächten gedemütigt, bis es von den Kommunisten im Jahre 1949 befreit wurde. Eine Zeit des Übergangs folgte unter Mao Zedong. Doch der Wendepunkt war die Regierungszeit von Deng Xiaoping, dem Architekten der Wirtschaftsreformen, die China zu einer riesigen Erfolgsgeschichte machte, mit der Folge dass das chinesische Modell heute mitunter sogar als eine Alternative zu Demokratien westlicher Prägung gesehen wird. Endlose Versionen dieser Geschichte werden nicht nur von Peking, sondern auch von Politikern, Unternehmern und Sinologen auf der ganzen Welt verbreitet.

Für Dikötter hält diese Erzählung der chinesischen Geschichte einer kritischen Überprüfung jedoch nicht stand: "Die Erzählung ist Propaganda, nicht die wahre Geschichte." Sie scheine vielmehr der Einsicht zu folgen, die George Orwell in seinem Roman "1984" verkündete:

"Wer die Vergangenheit kontrolliert, kontrolliert die Zukunft. Wer die Gegenwart kontrolliert, kontrolliert die Vergangenheit."

George Orwell in "1984"

Auf Grundlage seiner umfangreichen Recherchen in chinesischen Archiven kritisierte Dikötter die kommunistische "China Story", indem er zunächst eine von der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung noch immer verzerrt dargestellte Epoche rekonstruierte: die Zeit, die mit dem Zusammenbruch des chinesischen Kaiserreichs im Jahre 1911 begann und 1949 endete, als in Peking die rote Fahne von Maos Kommunisten gehisst wurde. Für den Historiker ist diese Ära ein "Zeitalter der Offenheit". Nach Dikötter war diese Epoche keine Zeit der Demütigung und des Elends, sondern eine der Offenheit und Globalisierung. Die Republik China, Asiens erste Republik, habe Jahrzehnte des Experimentierens mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit bedeutet. Menschen, Waren und Ideen hätten sich ungehindert nach China und aus dem Land heraus bewegen können. Die Versammlungsfreiheit habe zu zu einem beispiellosen Aufstieg der Zivilgesellschaft geführt.

Dieses "Zeitalter der Offenheit" fand sein Ende, als die Kommunisten unter der Führung Maos das Land 1949 "befreiten" - oder, wie Dikötter es ausdrückt, durch eine militärische Intervention aus dem Norden eroberten. Das Bild, das der Historiker von den darauf folgenden Ereignissen zeichnete, ist von der systemischen Verwüstung dominiert, die China in der Ära Maos durchlief. Private Unternehmen wurden verstaatlicht, Land seinen Besitzern weggenommen und die Menschen verloren ihre grundlegenden Freiheiten. Hinzu kam Maos "Großer Sprung vorwärts", eine Initiative, die zu einer der größten Hungerkatastrophen in der Geschichte der Menschheit führte. Als der chinesische Diktator sich nach der Hungersnot in einer schwachen Position wähnte, löste er die "Kulturrevolution" aus und stürzte das ganze Land in Aufruhr und Chaos.

Erst als Deng Xiaoping nach dem Tod von Mao im Jahr 1977 die Macht ergriff, verbesserte sich die Situation und die Menschen erhielten einige grundlegende ökonomische Freiheiten zurück. Es wird manchmal behauptet, die Kommunistische Partei Chinas habe Hunderte Millionen Menschen aus der Armut herausgebracht. Aber nach Dikötter waren es in Wirklichkeit die Menschen selbst, die sich aus Elend und Verzweiflung befreiten, in das sie während der maoistischen Ära geraten waren.

Dikötter betonte in seinem Vortrag die grundlegende Kontinuität des kommunistischen Einparteienstaats in der Volksrepublik China und argumentierte, dass der Kern des chinesischen Kommunismus nie Marx, sondern immer die Partei gewesen sei: "China ist heute ein leninistischer Einparteienstaat, in dem die Parteimitglieder in einer exklusiven Machtposition sind, die es ihnen ermöglicht, sich und ihre Familien zu bereichern." Die Kommunistische Partei bleibe die allumfassende Macht in Staat und Gesellschaft, die auch bestimme, wie China sich an seine Vergangenheit erinnert, so der Historiker. Die von ihr propagierte "China Story" werde jedoch der reichen und komplexen Geschichte des Landes in keinster Weise gerecht, meint Dikötter und gelangt zu dem Schluss:

"China ist in einem Zustand der erzwungenen Amnesie im Hinblick auf seine Vergangenheit."

Frank Dikötter, Historiker

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