Asiens Geister: Ian Buruma über Nationalismus und ungelöste Vergangenheitsfragen in Asien

Vor 70 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, doch er ist noch lange nicht Vergangenheit. Das gilt für Europa, aber mehr noch für Asien, wo nicht aufgearbeitete Kapitel der Geschichte bis heute politischen Sprengstoff bilden und die Stabilität in der Region gefährden. "Das lange Leben ostasiatischer Geister" lautete deshalb der Titel der Diskussionsveranstaltung, zu der die Bertelsmann Stiftung am 31. August in die Bertelsmann Repräsentanz in Berlin eingeladen hatte. Ian Buruma, Bestsellerautor und Professor für Menschenrechte, Journalismus und Demokratie am Bard College in New York, sprach dort im Rahmen der Dialogreihe "Asia Briefings".

Anders als in Europa sei es in Asien bisher nicht gelungen, einen länderübergreifenden und politisch akzeptierten Konsens über zentrale Fragen der Weltkriegsvergangenheit zu erlangen. Stattdessen sei die Geschichte bis heute Werkzeug nationaler – und häufig nationalistischer – Politik. Asiens Machthabern gehe es, so Buruma, nicht um historische Wahrheiten, sondern um „den Nutzen von Geschichte als Legitimation des politischen Status Quo“.

Die gefährlichsten Konfliktlinien verlaufen dabei zwischen Japan und China, Korea und den USA. Vor allem durch den Aufstieg Chinas gerate das Mächtegleichgewicht, das nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde und auf einer Vormachtstellung der USA in Asienpazifik beruhe („Pax Americana“) zunehmend ins Wanken. Ein neues Ringen um Einfluss und Macht habe begonnen, erklärte Buruma, bei dem historische Argumente eine Schlüsselrolle spielten.

In Japan versucht der konservative Premierminister Shinzo Abe, die einst von den Amerikanern diktierte Verfassung zu ändern, die dem Land anstelle eines regulären Militärs nur pazifistische „Selbstverteidigungskräfte“ zugesteht. Laut Buruma bedient Abe damit vor allem die konservative Wählerschaft, die die Nachkriegsordnung als nationale Demütigung empfindet. Den offenen Konflikt mit den Nachbarn China und Korea, die Japan mangelnde Verantwortung für seine Gräueltaten vorwerfen, nimmt Abe dabei bereitwillig in Kauf.

Chinas Regierung kommt Japans Konfrontationskurs durchaus gelegen. Seit der Öffnung Chinas in den 1980er Jahren bezieht die Kommunistische Partei ihre Legitimation immer weniger aus sozialistischer oder maoistischer Ideologie und fördert stattdessen eine neue Form des chinesischen Nationalismus. Dieser basiert vor allem auf dem Bewusstsein historischer Größe und den demütigenden Leidenserfahrungen der vergangenen hundert Jahre, deren Tiefpunkt die Besetzung durch Japan im Zweiten Weltkrieg darstellt.

Auch in Südkorea benutzt Präsidentin Park Geun-hye die Geschichte, um sich durch scharfen Patriotismus zu profilieren. Dabei sieht Buruma ihre Kritik an Japan auch als persönliche Unabhängigkeitserklärung: Park ist die Tochter des ehemaligen Präsidenten und Vater des südkoreanischen Wirtschaftswunders, Park Chung-hee – einem früheren Offizier der japanischen Armee. Ihre Distanzierung von Japan helfe der konservativen Präsidentin, ihre innenpolitische Position gegenüber dem linken Flügel zu stärken. 


Wie sich diese Konflikte entwickeln, hängt für Buruma maßgeblich davon ab, wie lange die USA noch in der Lage sind, als Puffer zwischen den asiatischen Staaten zu wirken. Eine Möglichkeit für eine neue asiatische Sicherheitspolitik ohne die USA als Hegemon sieht Buruma in einem Zusammenschluss asiatischer Länder nach dem Vorbild der NATO, möglicherweise unter Führung Japans. Doch daran ist erst zu denken, wenn die Geister der Geschichte zu Spuken aufhören.