Man hat sich schon fast daran gewöhnt. Alle fünf Jahre sagen wir Pro-Europäer: "Diese Europawahl ist die wichtigste, die es je gab." Wir erinnern uns: Ein paar Monate vor der Europawahl 2009 war gerade Lehman Brothers kollabiert, eine veritable Banken- und Finanzkrise hatte erst die USA und dann den Alten Kontinent erfasst. Eine geeinte Union schien wichtiger denn je, um den strauchelnden Bankensektor auffangen zu können. 2014 war aus der globalen Finanzkrise längst auch eine europäische Staatsschuldenkrise geworden, die zu Polarisierung und Rissen in der EU geführt hatte. Umso wichtiger schien es, dass die EP-Wahlen ein Zeichen europäischer Geschlossenheit senden würden (was nicht wirklich gelang). 2019 schließlich war Donald Trump schon zwei Jahre amerikanischer Präsident, die Briten hatten sich für den Brexit entschieden, die "Flüchtlingskrise" hatten ihren Höhepunkt erlebt und es wurde immer offensichtlicher, dass die EU ein Problem mit der Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit in den eigenen Reihen hatte. Erneut, so der Tenor jener Zeit, war die bevorstehende Europawahl die wichtigste aller Zeiten, um den zentrifugalen Kräften in einer kritischen Phase erfolgreich begegnen zu können. Es ist deswegen nicht neu, zu behaupten, dass die anstehende Europawahl ganz besonders wichtig sei. Und doch stimmt es. Erneut. Dieses Mal ganz besonders.
Warum? Schauen wir uns an, wo die EU heute steht. Die Lage ist ernst. Das war sie auch schon vor fünf Jahren, aber dieses Mal steht noch mehr auf dem Spiel. Die EU befindet sich womöglich in der entscheidendsten Phase ihrer 70-jährigen Geschichte. Die Fülle und Schwere der Krisen, Herausforderungen und Umbrüche, mit denen sie sich gleichzeitig konfrontiert sieht, ist beispiellos. In Summe haben sie das Potenzial, elementare Pfeiler der europäischen Ordnung zu erschüttern. Russlands Angriff auf die Ukraine hat schonungslos offengelegt, dass Europas Sicherheit und Verteidigung völlig neu konzipiert werden müssen. Sowohl militärisch als auch wirtschaftlich muss die EU massiv investieren, um kritische Abhängigkeiten zu verringern. Dies gilt umso mehr, als dass die transatlantische Zukunft ungewiss ist und China sich immer offensichtlicher als systemischer Rivale zeigt. Hinzu kommt: Der Kampf gegen den Klimawandel erfordert noch größere Anstrengungen, als wir bisher in Kauf zu nehmen bereit waren. Zugleich haben wir erheblichen Aufholbedarf bei der digitalen Transformation, die gemeinsam mit dem Wandel zu mehr Nachhaltigkeit die europäische Wirtschaftsordnung massiv verändern wird. Hier geht es um nichts weniger als unsere zukünftige Wettbewerbsfähigkeit und den wirtschaftlichen Zusammenhalt Europas. Der kürzlich veröffentlichte Binnenmarkt-Bericht des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Enrico Letta hat gezeigt, wie groß der Handlungsbedarf ist.
All dies wäre schon einigermaßen epochal. Die EU trägt aber auch noch so manche Altlast mit sich herum. Einige Krisen und Probleme, über die wir schon 2009, 2014 und 2019 diskutiert haben, sind noch immer unzureichend gelöst. Die Eurozone ist nach wie vor nicht hinreichend krisenfest, Banken- und Kapitalmarktunion bleiben unvollendet. Der jüngste Asyl-Reform-Kompromiss scheint nur bedingt geeignet, das Problem langfristig zu lösen. Die Beziehungen zum Vereinigten Königreich, die im geopolitischen Zeitalter wieder wichtiger werden, sind nicht wirklich konstruktiv geregelt. Last but not least steht die EU vor dem Problem, dass Teile ihrer Governance schlichtweg nicht mehr tauglich sind, um all diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen.
So ist die Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik heute kein Traum europäischer Föderalisten mehr, sondern eine politische Notwendigkeit. Gleiches gilt für die Durchsetzung des Rechtstaatlichkeitsprinzips, das ein unverhandelbarer Nukleus der inneren Ordnung der EU sein muss. Beides, eine durchsetzbare Stärkung der Rechtstaatlichkeit sowie die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen, sind neben einer Flexibilisierung der Zusammenarbeit (Stichwort "Koalitionen der Willigen") zentrale Säulen einer längst überfälligen Reform. Dies gilt umso mehr, wenn die EU aus guten Gründen ihre Erweiterung um die Staaten des Westbalkans, die Republik Moldau, Georgien und hoffentlich auch der Ukraine in der nächsten Legislaturperiode ernsthaft vorantreiben will. Ein Bericht unabhängiger deutsch-französischer Expert:innen aus dem September letzten Jahres hat diesen Konnex zwischen Erweiterung und Reform sehr eingänglich begründet – und damit glücklicherweise beim Europäischen Rat von Granada im letzten Jahr Gehör gefunden. Aber wie lange hält diese Erkenntnis und wie mehrheitsfest wird sie in der kommenden Legislaturperiode sein? Wird die EU in den nächsten fünf Jahren tatsächlich die Kraft haben, all die Herausforderungen und Reformen erfolgreich anzugehen, von denen ihr Schicksal abhängt?