Aart De Geus, Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann Stiftung, steht in einem Raum der Stiftung vor einer Wand und blickt in die Kamera. Im Hintergrund eine Pflanze, Fenster und ein See.

Brexit/Trump: Weckrufe für eine aktivere EU?

Am 29. März verkündet Großbritanniens Premierministerin Theresa May offiziell den EU-Austritt ihres Landes – neun Monate, nachdem eine Mehrheit der Briten für den "Brexit" stimmte. Welche Verhandlungsstrategie sollte die EU fahren? Stehen der Brexit und der neue US-Präsident für das Ende internationaler Zusammenarbeit, wie wir sie kennen? Einschätzungen unseres Vorstandsvorsitzenden Aart De Geus.

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Interview mit Social Europe (gekürzte Version). Das komplette Interview finden Sie über den Weblink auf der rechten Seite (in mobiler Ansicht unter dem Text).

Social Europe: Kann die EU sich vom Schock des Brexit erholen, und was ist der beste Weg für ihre Zukunft? Sollte die europäische Integration vertieft, teilweise zurückgenommen oder verbessert werden?

Aart De Geus: Der Brexit war in der Tat ein Schock, doch wir sollten nun beginnen, ihn als Chance zu begreifen. Wir müssen mit der Tatsache leben, dass die Mehrheit der Briten nicht der Europäischen Union angehören will. Nun ist es an den Briten, sich darüber klar zu werden, welche Art von Beziehung zu Europa sie sich wünschen. Was die EU betrifft, so sollte der Brexit als Weckruf verstanden werden, als Aufforderung, ein Europa zu schaffen, das in Zukunft für seine Bürger attraktiv ist und ihre Erwartungen an die EU erfüllen kann.

Wie sollte die Verhandlungsstrategie der EU bei der Scheidung von Großbritannien aussehen?

Zunächst einmal sollte die EU die Bedingungen der Scheidung auf transparente Weise aushandeln. Es ist sehr wichtig, dass dies auf vertrauenswürdige und auch von außen verständliche Art geschieht.

Zweitens, was den Inhalt betrifft, ist es wichtig, dass die Europäische Union sich an ihren zentralen Werten und Interessen orientiert. Für die Briten sollten dieselben Spielregeln gelten wie für alle anderen EU-Nachbarn. Da sollten keine Ausnahmen gemacht werden, und die Briten sollten sich nicht die Rosinen herauspicken dürfen.

Drittens rate ich dazu, unvoreingenommen und pragmatisch an die Sache heranzugehen. Selbst wenn Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU ist, teilen wir doch eine lange gemeinsame Geschichte, Ideen und Werte.

Welche Rolle könnte Deutschland spielen?

Deutschland könnte der wichtigste Akteur sein, der den Brexit als Chance für mehr Integration begreift. Diese Rolle könnte Deutschland deshalb zufallen, weil andere Regierungen große innenpolitische Probleme bewältigen müssen und deshalb nicht die gleiche Durchschlagskraft und Energie haben.

In Deutschland hat die europäischen Idee einen starken Rückhalt und die europäische Integration besaß für die deutsche Politik immer einen hohen Stellenwert. Nun ist es an der Zeit, konkrete Schritte zu unternehmen, um Europa zu verbessern und den Erwartungen der Bürger stärker gerecht zu werden. Auf dem Weg dahin sollte Deutschland eine führende Rolle spielen.

Wie sollte Europa auf die sozialen Verwerfungen reagieren, die offenbar eine Triebfeder für populistische Bewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika sind?

Die Tatsache, dass populistische Bewegungen nicht nur in den europäischen Ländern, sondern auch in den USA Zulauf haben, zeigt deutlich, dass das Erstarken des Populismus nichts mit der Europäischen Union als solcher zu tun hat. Denen, die behaupten, die EU sei der Grund für Populismus, würde ich entgegenhalten: "Schaut doch mal nach Amerika – die haben kein Brüssel."

Sehen Sie Verbindungen zwischen dem Brexit-Votum und dem Erfolg von Populisten wie Donald Trump in den USA?

Unsere jüngste Umfrage aus der Reihe "eupinions" thematisiert das Erstarken des Populismus. Sie zeigt, dass Angst vor der Globalisierung weit verbreitet ist. Die Gründe für diese Angst verstehen wir nicht ausreichend. Wie es scheint, haben viele Menschen Angst vor einer Welt, die sich schnell verändert.

Wir beobachten in vielen Ländern – und dies ist ein gemeinsamer Nenner zwischen dem Brexit und den Wahlen in den Vereinigten Staaten – dass die Menschen Zuflucht zu einer Weltsicht suchen, die Komplexität reduziert oder sogar Teile der Wirklichkeit ausblendet. Vor diesem Hintergrund gewinnen politische Konzepte großen Einfluss, die den Rückzug von der internationalen auf die nationale Ebene propagieren oder sich eher an der Vergangenheit als an der Zukunft orientieren.

Würden Sie sagen, dass angesichts des Brexit und der Wahl von Trump das Ende internationaler Zusammenarbeit in ihrer bisherigen, vertrauten Form naht?

Ich bin kein Freund davon, überall Paradigmenwechsel zu sehen, nach dem Motto: Heute ist das Ende dieser Ordnung gekommen, morgen das Ende jener Ordnung. Die Geschichtsschreibung lehrt uns, dass wir eine Entwicklung zwar für die größte Umwälzung des Jahres oder sogar vieler Jahrzehnte halten mögen, dass aber nur die Geschichte selbst zeigen kann, ob wir mit unserer Einschätzung richtig oder falsch liegen.

Meiner Meinung nach ist es für uns viel wichtiger, uns auf Europa zu konzentrieren und uns unseren Aufgaben zu stellen. Unsere Aufgabe besteht darin, Europa zu verbessern und uns zu fragen: "Welche Rolle soll Europa in der globalen Ordnung spielen?" Die Angst vieler unserer Bürger vor der Globalisierung müssen wir dabei ernst nehmen.

Außerdem sind möglicherweise die Absichten und Interessen anderer globaler Akteure wichtiger als die Frage, wie sehr die Politik der Vereinigten Staaten von Eigennutz geleitet ist. Wenn wir ehrlich sind, so gab es in der US-Politik auch unter einem sehr, sehr aufgeschlossenen und einfühlsamen Präsidenten Barack Obama einige recht eigennützige Elemente. Auch unter Obama orientierten sich die USA nicht immer am Wohl der Weltgemeinschaft. Daher bleibt abzuwarten, wie groß die Veränderung in der Praxis wirklich sein wird.

Lesen Sie hierzu auch den aktuellen Blogbeitrag unseres Kollegen Christian Bluth vom Projekt Global Economic Dynamics (in englischer Sprache): "Article 50 Has Just Been Triggered – What Happens Next?"

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