Zwei Männer stehen auf einem Balkon eines Hauses in der italienischen Stadt Palermo. Im Hintergrund Häuser und eine Straße, auf der Vespas fahren.

"Alles ist darauf angelegt, diese Menschen zu isolieren"

Palermo hat ein Aufnahmesystem für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgebaut, das in Italien einmalig ist. Und doch wächst die Angst. Ein Besuch in Siziliens Hauptstadt.

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Von Johannes von Dohnanyi für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 4/2016 (gekürzte Fassung).

Wer das Zeichen gegeben hat, ist unklar. Von der verdorrten Rasenfläche schlurfen die Fußballspieler an den Rand der Uferpromenade von Palermo. Ausgetretene Sportschuhe werden abgestreift, Badelatschen einfach stehengelassen, verschwitzte Trikots vom Leib gezogen. Aus ihren Rucksäcken kramen die jungen Männer Wasserflaschen hervor.

Eben noch haben sie sich über gelungene Ballstafetten gefreut, sich mit lauten Rufen angefeuert. Jetzt sitzen sie in der warmen Oktobersonne und starren mit leerem Blick auf den staubigen Boden. Er hasse das Meer, murmelt ein junger Mann in passablem Englisch, als wenige hundert Meter entfernt eine große Fähre in den Hafen der Hauptstadt Siziliens einläuft. Fragen nach seiner Reise durch halb Afrika und übers Mittelmeer nach Palermo beantwortet er mit einem Achselzucken und fünf dürren Worten: "Sie haben ja keine Ahnung."

Erst die Fragen nach seinem grünen Trikot machen den 17-jährigen Kourou neugierig. Wie ist dieses Germany, aus dem ein Fußballverein eines Tages Trikots in sein Dorf in Gambia schickte? Fragen und Gegenfragen. Irgendwann auch die, ob er und seine Freunde weiter nach Deutschland wollen. Die jungen Männer schauen sich an. Germany sei "a very, very cold country", weiß der "Trainer" der improvisierten Flüchtlingsmannschaft. "Und überhaupt – warum sollten wir weiterziehen?", fragt Kourou und macht sich auf den Weg in die zweite Halbzeit: "Uns geht es hier doch gut."

Kourou hatte keinen Einfluss auf seinen Wohnort in Italien. Aber er hatte doppeltes Glück: Er überlebte das Meer. Und seit er in Palermo an Land ging, hat er mit Bürgermeister Leoluca Orlando einen gesetzlichen Vormund, der minderjährige Flüchtlinge nicht wie andere italienische Stadtoberhäupter als Gefahr begreift. Orlando hat Agnese Ciulla, seine Assessorin für Soziale Angelegenheiten, mit der praktischen Arbeit betraut: "Sie ist die Mama von derzeit etwa 1.200 Mündeln."

Haben viel Leid hinter sich: Junge Männer, allesamt aus afrikanischen Staaten geflüchtet, sitzen an der Promenade Palermos.

Integration vom ersten Tag an

Vom Schreibtisch in einem heruntergekommenen Palazzo aus fällt Agnese Ciulla ein vernichtendes Urteil über die europäische Flüchtlingspolitik: "Das ganze System funktioniert nicht." Natürlich sei es die humanitäre Pflicht Europas, Menschenleben zu retten: "Seit Anfang des Jahres sind schon über 3.500 Migranten im Mittelmeer ertrunken." Aber wenn die Überlebenden an Land gegangen sind – was dann?

"Alles ist darauf angelegt, diese Menschen zu isolieren. Wir lassen sie an unserem Leben so wenig wie möglich teilhaben. Genau damit aber kreieren wir doch ein Monster, das auf lange Sicht unsere Gesellschaften bedrohen wird."

Agnese Ciulla, Assessorin für Soziales der Stadt Palermo

10 bis 15 Prozent der Flüchtlinge, die in Palermo ankommen, sind unbegleitete Minderjährige. Vom Krieg traumatisiert, gefoltert, vergewaltigt – die meisten von ihnen um die 16 Jahre alt. Schon allein wegen ihrer Erfahrungen verlangen sie, mit Respekt behandelt zu werden. Umgekehrt müssen sie lernen, ihre neue Umgebung zu respektieren. Ein hartes Stück Arbeit, weiß Ciulla: "Denn uns bleibt ja nur die kurze Spanne bis zur Volljährigkeit, um sie an das Leben in und mit der Mehrheitsgesellschaft zu gewöhnen. Danach können wir ihre Integration nicht mehr begleiten."

Ihr Rezept: ein ehrliches Angebot zur Teilhabe am palermischen Leben vom ersten Tag an. Schulpflicht und Sprachkurse sofort. Keine Unterbringung in isolierten Massenunterkünften am Stadtrand, sondern in kleinen betreuten Wohneinheiten überall im Stadtzentrum: "Wenn wir die Jugendlichen in dieser Phase alleine und ohne Perspektive lassen, treiben wir sie in die Arme der Mafia oder religiös-fanatischer Rattenfänger."

Es klingt alles so einfach. Und dann, wieder auf der Straße, die Ernüchterung: Sizilianische Kinder, die als illegale Parkplatzwächter zum kargen Familieneinkommen beisteuern. Eine alte Frau, die mit ihrem schweren Wasserkanister von einem Brunnen nach Hause geht. Einsturzgefährdete Häuser, in denen seit Jahrzehnten niemand mehr lebt.

Übergriffe auf Flüchtlinge blieben aus

Wie kann es jungen Flüchtlingen gut gehen in einer Stadt, in der ganze Straßenzüge heruntergekommen sind? In der die Jugendarbeitslosigkeit bei über 40 Prozent liegt? Und die die südlichste Großstadt eines Landes ist, in dem sich aus wachsender Frustration über die Reformunfähigkeit des Staates und jahrelanger fremdenfeindlicher Hetze populistischer Parteien wie der "Lega Nord" und des "MoVimento 5 Stelle" eine hochexplosive Gemengelage geformt hat?

"Vielleicht, weil wir uns seit dem Altertum mit immer neuen Herren und Migrationswellen arrangieren mussten", bietet Leoluca Orlando als Erklärung dafür an, warum es – anders als auf dem Festland – auf der größten Insel Italiens kaum einmal zu fremdenfeindlichen Übergriffen kommt, obwohl fünf Millionen mehrheitlich immer noch arme Sizilianer in den vergangenen zwei Jahren gut 400.000 Flüchtlinge aufgenommen haben. Womöglich sei er, der in Heidelberg promovierte Jurist, auch deshalb vor vier Jahren mit 74 Prozent der Stimmen zum Bürgermeister von Palermo gewählt worden, weil er die Rückbesinnung auf dieses multi-ethnische Kulturerbe zum Schwerpunkt seines Wahlkampfs machte.

"Migration ist keine Last, sondern ein kultureller und ökonomischer Gewinn!"

Leoluca Orlando, Bürgermeister der Stadt Palermo

Der 17-jährige Ohonsi aus Nigeria lebt seit sechs Monaten zusammen mit elf weiteren minderjährigen Flüchtlingen in einer weiträumigen Wohnung im Herzen Palermos. Der schlaksige Junge hat von den miserablen Zuständen in "normalen" Flüchtlingseinrichtungen gehört. Bei ihnen in der Küche wird dagegen gelacht und gescherzt und es werden italienische Wörter ausprobiert. Seit er eine dreijährige Kochlehre begonnen habe, sehe er zum ersten Mal eine Perspektive, sagt Ohonsi.

So friedlich gehe es hier eigentlich immer zu, sagt die junge Psychologin Francesca Pruriti, die die kleine Einrichtung zusammen mit einem Kollegen betreut: "Ihre Geschichten mögen verschieden sein. Aber ihre Erlebnisse auf der Flucht ähneln sich. Gemeinsam lernen sie, ihr Leben und ihre Traumata zu akzeptieren." Doch Ohonsis kleine Enklave ist in ihrer Existenz bedroht. 45 Euro kostet sein Unterhalt pro Tag. Doch selbst die hat das Innenministerium in Rom schon seit Monaten nicht mehr überwiesen. "Bis zum Jahresende halten wir noch durch ...", sagt Pruriti.

Flüchtlinge in Deutschland

Palermos Finanzlage bessert sich – doch Roms schlechte Zahlungsmoral gefährdet den Aufschwung

Bei seinem Einzug ins Rathaus übernahm Bürgermeister Orlando eine hoch verschuldete und in weiten Teilen korrupte Stadt. Weil er wusste, dass er seine Pläne ohne Gelder aus Rom und Brüssel nicht würde umsetzen können, berief er Luciano Abbonato an die Spitze der Budgetbehörde und befahl ihm, den Rotstift zu spitzen: "Um Gelder von Wolfgang Schäuble zu bekommen, musste ich mich erst einmal wie Schäuble benehmen."

Vier Jahre später hat Abbonato ein Finanzwunder vollbracht. Der 700-Millionen-Euro-Haushalt Palermos speist sich zu 70 Prozent aus lokalen Steuereinnahmen. Regionale und nationale Transferleistungen machen nur noch 30 Prozent aus. "Vor zehn Jahren", sagt der Italiener stolz, "war das noch genau umgekehrt." Das städtische Defizit sinkt. Palermo erwirtschaftet zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder einen Haushaltsüberschuss. Der Finanzexperte hat die Mafia von den Fleischtöpfen der Stadtverwaltung vertrieben. Gleichzeitig sind die Sozialausgaben ebenso gestiegen wie die Investitionen in die Infrastruktur. Denn "der Erfolg unserer Willkommenspolitik hängt von der Gewissheit der Palermer ab, dass die Dienstleistungen der Stadt für alle Bürger funktionieren."

Bislang ist dieser Spagat gelungen. Doch die Probleme wachsen – nicht zuletzt wegen der Kosten für die Aufnahme der jungen Flüchtlinge. Laut Gesetz muss die Zentralregierung in Rom zahlen. Zur Bewältigung der Flüchtlingssituation hat Brüssel bislang 24,5 Millionen Euro an Italien überwiesen. Bis 2020 sollen noch einmal 592,6 Millionen kommen. "Aber ich habe keine Ahnung, was mit diesen Geldern passiert", wundert sich Abbonato. Bei ihm komme aus dem römischen Geldhahn nur ein Tröpfeln an: "Bis zum Jahresende werde ich für die Aufnahme der Jugendlichen 5,8 Millionen Euro vorfinanziert haben." In diesem Betrag ist auch das Geld für die Einrichtung des jungen Nigerianers Ohonsi enthalten. "Aber aus Rom habe ich bisher nur eine Million erstattet bekommen."

Die römische Zahlungsmoral ist umso unverständlicher, als die Gesamtentwicklung Palermos dem Bürgermeister und seinem Team bisher Recht gibt. In den Achtziger- und Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gehörte Orlando zur Speerspitze der sizilianischen Antimafia-Front. Seitdem schrumpfte die Cosa Nostra in Palermo vom alles bestimmenden Machtfaktor "zu einem kleineren Teil des urbanen Mosaiks." Heute erlebt die Stadt eine wirtschaftliche und kulturelle Renaissance.

Führt Palermo mit Unterbrechung bereits seit 1985: Bürgermeister Leoluca Orlando.

Einheimische und Einwanderer sind gleichberechtigte Bürger der Stadt

Das sichtbarste Symbol dafür ist die "wandelnde Leiche" selbst, wie die Palermer ihren Bürgermeister früher nannten. Anstatt wie einst umgeben von einem Dutzend Leibwächter und im Schutz einer gepanzerten Limousine schlendert Leoluca Orlando an einem Oktobersonntag mit Freunden durch Palermo. Immer wieder breitet er mit Stolz und südländischem Pathos die Arme aus: „Una città liberata“ – eine befreite Stadt.

Statt Polizeisirenen und einem Klima der Angst: volle Säle beim Festival der Migrantenliteratur. Eine neue Fußgängerzone rund um das Marktviertel Vucciria. Schicke Boutiquen, lebhafte Espressobars und Menschenschlangen vor Sehenswürdigkeiten. Alle paar Meter wird der Bürgermeister von Menschen aufgehalten, die ein Selfie mit ihm wollen, die ihm ihre Solidarität, ihre Anerkennung und manchmal auch ihre Nöte anvertrauen: gebürtige Sizilianer genauso wie Flüchtlinge und Migranten.

"Alles gleichberechtigte Bürger Palermos", wird Leoluca Orlando am Nachmittag dem nigerianischen Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka diese Begegnungen erklären und dem neuen Ehrenbürger der Stadt die 2015 veröffentlichte "Charta von Palermo" übergeben. Der Untertitel dieser Schrift: „Von der Migration als Problem zur Freizügigkeit als unveräußerlichem Menschenrecht.“

"Der Mensch ist nicht Bürger des Ortes, an dem er geboren wurde, sondern des Ortes, den er sich zum Leben ausgesucht hat."

Leoluca Orlando, Bürgermeister der Stadt Palermo

In seiner Jugend, so Orlando, sei er in einer von Einwanderung geprägten Stadt ohne Migranten aufgewachsen. Heute sei Palermo wieder eine für andere Kulturen offene Stadt: "Unsere Identität ist durch unsere Lage am südlichen Zipfel der Europäischen Union definiert. Palermo ist auch Tunis, Tripolis und Beirut. Und egal, ob es Brüssel gefällt: Wir sind das neue Europa."

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