Taiwan führt ein Feld von 129 untersuchten Staaten im Status-Index an. Die Inselrepublik fällt durch große Transformationsleistungen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Rang 1 im Marktwirtschafts-Status) sowie eine stabile, gesellschaftlich verankerte Demokratie (Rang 3 im Demokratie-Status) auf. Dieses Ergebnis lässt sich mit drei Faktoren erklären:
Taiwan – Drei Erfolgsrezepte für erfolgreiche Transformation
Taiwan führt den Status-Index unseres kürzlich erschienenen Transformationsindex BTI 2016 an. Dass dem Land die Transformation von einem autoritär geführten Entwicklungsland zu einer prosperierenden Demokratie und Marktwirtschaft gelungen ist, verdient besondere Aufmerksamkeit. Was sind die Rezepte für den politischen und wirtschaftlichen Erfolg der Inselrepublik?
1. Die richtigen Führungspersönlichkeiten zur richtigen Zeit.
Chiang Kai-shek legte bereits in der politisch düsteren Zeit des "Weißen Terrors" die Grundlagen für das erste chinesische Wirtschaftswunder. Die militärische Wiedereroberung des Festlands fest im Blick, baute sein Regime in Rekordzeit ein leistungsfähiges staatskapitalistisches Wirtschaftssystem auf, das zunächst auf Dirigismus durch die Zentralregierung und Abschottung gegen ausländische Märkte setzte. Als die politische und finanzielle Unterstützung aus den Vereinigten Staaten gegen Ende der 1950er Jahre nachließ, steuerte Chiang von Importsubstitution auf exportorientiertes Wachstum um. Es ist zuallererst sein Verdienst, dass der Wirtschaftsstandort Taiwan bald schon zu den "Tigerstaaten" gezählt wurde.
Langfristig ist wirtschaftlicher Erfolg ohne politische Liberalisierung eher die Ausnahme geblieben. (Ein laufendes Experiment mit offenem Ausgang befindet sich auf der anderen Seite der Formosastraße.) So gesehen erwies Chiangs Sohn und Nachfolger Ching-kuo der taiwanischen Gesellschaft mit der überraschenden Aufhebung des Kriegsrechts 1987 einen großen Dienst. Am meisten um die taiwanische Demokratie verdient gemacht hat sich Präsident Lee Teng-hui, der in seiner Amtszeit Oppositionsparteien legalisierte (1991), die ersten freien und fairen Parlamentswahlen abhalten ließ (1991/92) und die erste Direktwahl des Staatsoberhaupts ermöglichte (1996). Lees Anerkennung der verfassungsgemäßen Amtszeitbegrenzung leitete den ersten friedlichen Machtwechsel ein und ebnete den Weg in eine demokratische Zukunft.
2. Der Aufbau und die Stärkung inklusiver Institutionen.
Das Führungspersonal kann aber allenfalls ein Teil der Erklärung für Taiwans gelungenen Transformationsprozess sein. Auf dem chinesischen Festland politisch und wirtschaftlich krachend gescheitert, fand Chiang Kai-sheks Immigrantenregime 1949 auf Taiwan günstige Bedingungen für wirtschaftliche Entwicklung vor. Es profitierte von den Strukturen und Institutionen, die während der japanischen Besatzung errichtet worden waren. Die agrarische und industrielle Infrastruktur war verhältnismäßig gut ausgebaut. Die Wirtschaft war schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stärker gewachsen als im japanischen Mutterland, die Reisproduktion hatte zwischen 1910 und 1938 um 133% zugenommen. Politisch profitierte die Kuomintang von dem Erbe japanischen Kolonialinstitutionen – von der Bürokratie, über das Polizeiwesen und die Zentralverwaltung bis zum Justizwesen.
Wie Daron Acemoglu und James Robinson in ihrem Bestseller "Warum Nationen scheitern" überzeugend darlegen, ist aber letztlich die Inklusivität politischer und wirtschaftlicher Institutionen der entscheidende Faktor für den Erfolg von Staaten. Das 19-Punkte-Programm von 1959 verschaffte den Marktteilnehmern besseren Zugang zu wirtschaftlichen Ressourcen und ein stabileres Umfeld, indem es dauerhafte wirtschaftliche Institutionen wie ein Zentralbanksystem und den Kapitalmarkt stärkte, Privatunternehmen bevorzugt behandelte und ausländische Investitionen anlockte. Heute zählt Taiwan im BTI zu den Staaten mit herausragender Markt- und Wettbewerbsordnung, der größten Währungs- und Preisstabilität und dem besten Schutz von Eigentumsrechten. Das gut entwickelte Bildungssystem mit qualitativ hochwertiger Schul-, Hochschul- und Berufsausbildung bleibt ein Schlüssel für soziale Mobilität. Bereits in den 1950er Jahren wurde eine rudimentäre Sozialversicherung eingeführt, die Einkommensunterschiede auf lange Sicht nicht allzu zu groß werden ließ. Aktuellen Untersuchungen der Asian Development Bank zufolge ist die Einkommensverteilung in Taiwan weniger ungleich als in den meisten anderen Hochlohnländern; selbst in der kommunistischen Volksrepublik sind Einkommen ungleicher verteilt.
Allerdings nimmt die soziale Ungleichheit heutzutage merklich zu – ein Trend, den wir in vielen Ländern beobachten. Ein für asiatische Verhältnisse umfassender und ausdifferenzierter Sozialstaat schützt effektiv vor absoluter Armut und anderen sozialen Risiken, aber nicht vor stagnierenden Arbeitslöhnen.
3. Eine lebendige Zivilgesellschaft.
Soziale Ungerechtigkeit ist auch eines der größten Mobilisierungsthemen für die lautstarke, ideologisch polarisierte taiwanische Zivilgesellschaft. Sie wacht über die Einhaltung der demokratischen Spielregeln, die Erhaltung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit und die Funktionsfähigkeit des Sozialsystems – und leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Nachhaltigkeit des taiwanischen Erfolgsmodells.
Taiwans engagierte Bürger sind besonders empfindlich bei Klientelismus, Bestechung und Amtsmissbrauch. Die breite öffentliche Debatte über politisches Fehlverhalten wie in dem handfesten Justiz-Korruptionsskandal vor einigen Jahren trägt zu einem hohen Problembewusstsein in der Bevölkerung bei. (Folglich stehen viele Taiwaner dem guten Abschneiden ihres Landes in Rankings wie denen des BTI skeptisch gegenüber.) Die Zivilgesellschaft artikuliert die wirtschaftlichen Interessen von Berufsgruppen, Gesellschaftsschichten und sozialen Gruppen.
Die Zivilgesellschaft setzt auch neue politische Impulse jenseits der etablierten Parteienlager, wie geschehen in der studentischen Sommerblumen-Bewegung 2014. Im Frühjahr 2014 besetzten studentische Aktivisten drei Wochen lang rechtswidrig das Parlament, um gegen das schlechte Management der Regierung in der Frage der Ratifizierung eines Freihandelsabkommens mit China zu protestieren. Die Demonstranten, die große öffentliche Unterstützung erfuhren, beendeten die Besetzung erst, nachdem die Regierung das Abkommen auf Eis gelegt hatte, bis sie eine größere öffentliche Aufsicht und transparentere Ratifizierungsverfahren solcher Abkommen hergestellt hat. Der politische Sieg der Sonnenblumenbewegung hat zu einer Vertiefung der demokratischen Spielregeln und zu einer Wahrung des gegenwärtigen Niveaus politischer Unabhängigkeit vis-à-vis China beigetragen.
Taiwans Spitzenposition im BTI 2016, die der scheidende Präsident Ma Ying-jeou in einer Stellungnahme hervorhob, ist also sowohl ein Erfolg der politischen Führung und funktionierender Institutionen über längere Zeiträume als auch ein Ausweis einer wachsamen Zivilgesellschaft.
Dieser Artikel wurde zunächst in englischer Sprache im BTI Blog veröffentlicht.