Brigitte Mohn, sitzend auf einer Couch

Anliegen der Bürger als Kompass für Veränderung

Die Bürgerbelange gehören ins Zentrum der Gesundheitspolitik: Bedarfsgerechtigkeit, Partizipation und Transparenz sind Eckpunkte für ein in sich stimmiges, bürgerorientiertes Gesundheitswesen.

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Ein Kommentar von Brigitte Mohn, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 3/2015

Gesundheit gehört zu den Themen, bei denen die Verantwortung des Einzelnen gleichermaßen gefragt ist wie die von Staat und Gesellschaft. Das deutsche Gesundheitswesen gilt mit seiner im internationalen Vergleich hohen Arzt- und Krankenhausdichte als eines der leistungsfähigsten. Während die Zahlen der Arztbesuche und der stationär behandelten Fälle auf Rekordniveau liegen, sind die Ergebnisse in der Versorgung zum Teil nur durchschnittlich. Mögliche Lösungsansätze, wie eine stärker vernetzte Versorgung und die Digitalisierung von Behandlungsprozessen (Telemedizin), werden seit Jahren diskutiert, aber bisher nur sehr zögerlich umgesetzt. Der Veränderungsdruck im deutschen Gesundheitswesen ist also hoch.

Reformen brauchen einen Kompass, und Bürgerorientierung sollte für uns die zentrale Navigationshilfe sein. Denn neben der Verantwortung, die Patienten, Staat und Gesellschaft tragen, müssen auch die Möglichkeiten der Gestaltung fair verteilt sein. Hier gibt es noch einiges zu tun. Mit Blick auf das Gesundheitswesen zielt Bürgerorientierung darauf, die Versorgungsprozesse um die Anliegen der Bürger als Akteure und Mitproduzenten von Gesundheit zu zentrieren. Die Bürger sollen dabei aber nicht passiv bleiben, sondern sich aktiv einmischen, um Mitverantwortung für sich und das Gemeinwesen insgesamt zu übernehmen. Bürgerorientierung konkretisiert sich in folgenden Aspekten:

1. Bedarfsgerechtigkeit

Es darf nicht vom Wohnort abhängen, ob man eine menschlich zugewandte und leitliniengerechte Behandlung erhält oder nicht. Regionale Unterschiede sind ein Indiz für Defizite in der Versorgung. Die medizinische Versorgung muss stärker am Bedarf der Bürger vor Ort und deren Bedürfnissen ausgerichtet werden.

2. Partizipation

Patienten sind als Partner im Versorgungsgeschehen zu behandeln, als Koproduzenten ihrer Gesundheit. Mit der Ausbildung von Gesundheitskompetenz ("Health Literacy"), zum Beispiel durch gute Entscheidungshilfen, werden Patienten befähigt, ihre Interessen und Belange im Behandlungsgeschehen besser zu verstehen und zu vertreten.

3. Transparenz

Um selbstbestimmt und verantwortlich handeln zu können, ist es notwendig, die Bürger über Angebote und Qualität von Gesundheitsdienstleistungen verständlich und unabhängig zu informieren. Wir brauchen im deutschen Gesundheitswesen eine Transparenzkultur, in der Informationsfreiheit und Datenschutz sich ergänzen.

4. Systemkohärenz

Systemverantwortung entsteht nur, wenn auch die Strukturen des Gesundheitswesens den Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern, anstatt soziale Unterschiede bei den Gesundheitschancen zu verstärken. Solidarität lässt sich nicht zwischen Berufs- und Einkommensgruppen aufteilen. Das Nebeneinander von gesetzlicher und privater Krankenversicherung in seiner gegenwärtigen Form macht von daher keinen Sinn.

5. Konsistentes Anreizsystem

Die Rahmenbedingungen im Wettbewerb der Krankenkassen müssen so gestaltet werden, dass die gute Versorgung der Patienten sich mehr lohnt als Risikoselektion bei den Versicherten. Zugleich sollte die Vergütungssystematik für ambulante und stationäre Leistungen deren Notwendigkeit, Nutzen und Qualität ins Zentrum stellen, nicht allein die Menge.

Reformpolitik im Gesundheitswesen, die mehr sein will als ein bloßer Reparaturbetrieb, sollte diese Aspekte berücksichtigen und ihre Vorhaben am Kriterium der Bürgerorientierung messen lassen.