Ein älteres Ehepaar sitzt in seinem Wohnzimmer mit dem Hausarzt bei Kaffee und Kuchen.

Ein ganz besonderes Verhältnis

Auf dem Land kennt noch jeder jeden. Auch der Arzt seine Patienten. Doch schon jetzt gibt es in vielen Regionen Deutschlands nicht mehr genug Ärzte. Neue Ideen und Projekte sollen das Problem lösen.

Infos zum Text

Text von Carina Braun für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 2/2015 (gekürzte Fassung).

Es ist ein grauer Tag im April, als Volker Staats seinen Koffer ins Auto packt und zu einem Mann fährt, dem er wahrscheinlich einmal das Leben gerettet hat. Er fährt auf schmalen Straßen durch flaches Land, vorbei an Schafen, Windmühlen und Feldern, vorbei an Orten, die den Charakter der Gegend im Namen tragen: Westerdeichstrich, Deichhausen, Hedwigenkoog. Die Westküste Schleswig-Holsteins.

Hier, nahe dem Meer und fern der Großstadt, praktiziert Volker Staats seit 21 Jahren als Arzt. 58 Jahre ist er alt – der jüngste Hausarzt Büsums. Die Gemeinde an der Nordsee ist beliebt bei Touristen, sie hat Strand, Watt, Krabben, aber sie hat auch ein Problem: Außer Staats sind alle Hausärzte über 60 Jahre alt. Früher einmal gab es acht Ärzte, nun sind es nur noch fünf. Die, die da sind, wollen in den kommenden Jahren in Rente gehen. Aber Nachfolger sind nicht in Sicht.

Mit seinen 58 Jahren ist Staats das "Küken", wie er es scherzhaft nennt. Er weiß, dass es absurd klingt. Er weiß aber auch, dass das Problem dahinter ein ernstes ist. Wenn kein Nachfolger gefunden wird, droht die Versorgung in der Gegend zusammenzubrechen. "Es ist schlimm, nicht zu wissen, wie es dann mit den Patienten weitergeht."

Noch bekommen er und seine Kollegen die Region versorgt, aber nur, weil ihre Arbeit keinen verbindlichen Dienstschluss kennt. "Wenn nachmittags Patienten anrufen, weil sie krank sind, und nicht kommen können, dann fahre ich auch abends nach der Praxis noch hin", sagt Staats. "Wir legen das Stethoskop nicht nieder nach acht Stunden."

Leistet einen wichtigen Dienst für die Gemeinschaft: Volker Staats (58) ist Hausarzt in Büsum und auch außerhalb der regulären Arbeitszeiten für seine Patienten da.

Genau das passt jedoch nicht in die Lebensplanung vieler junger Ärzte. Die nachrückende Generation will nicht aufs Land. Sie bevorzugt die Großstadt, wo Kultur- und Freizeitangebote locken, wo Kliniken und große Praxen Angestelltenverhältnisse bieten. Angestellt sein, das heißt weniger Risiko, weniger Verwaltung, vor allem aber heißt es feste Arbeitszeiten und die unbürokratische Möglichkeit zur Teilzeit. Inzwischen studieren mehr Frauen als Männer Medizin. Die Work-Life-Balance wird immer wichtiger – die Vereinbarkeit von Beruf, Freizeit und Familie.

Die Bundesärztekammer (BÄK) sprach 2014 von einer "Generationenfalle". Der Ärztemangel sei in vielen Gebieten Deutschlands längst Realität. Als besonders bedrohlich gilt die Situation etwa in Teilen Brandenburgs, Niedersachsens und Mecklenburg-Vorpommerns, doch auch innerhalb der Regionen gibt es enorme Unterschiede.

Mehrere Aspekte des demographischen Wandels spielen unglücklich zusammen.Die Bevölkerung wird älter, der Bedarf an medizinischer Versorgung größer. Doch mit der Gesellschaft altern auch ihre Ärzte. Laut Bericht der BÄK zur Ärztestatistik 2014 plant fast jeder vierte niedergelassene Arzt, bis zum Jahr 2020 seine Praxis aufzugeben. Und auch die durchschnittliche Arbeitszeit wird weniger. Zwar gibt es insgesamt immer mehr Mediziner, aber immer mehr entscheiden sich für Teilzeit. Waren es im Jahr 2001 noch etwa 31.000 Ärzte in Teilzeit, stieg ihre Zahl laut Statistischem Bundesamt binnen zehn Jahren auf 54.000. Die Zahl der im ambulanten Bereich angestellten Ärzte ist seit 1993 auf fast das Fünffache gestiegen. Eine 70-Stunden-Woche, von der viele selbständige Hausärzte berichten, will kaum noch jemand allein bewältigen.

"Pro Arzt, der in Rente geht, werden wir künftig 1,5 Stellen nachbesetzen müssen. Wir steuern auf einen massiven Ärztemangel zu."

Marco Dethlefsen, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Schleswig-Holstein

Deshalb versuchen sie in Büsum nun etwas Neues. Es ist ein Pilotprojekt, das Schule machen könnte: Die Gemeinde eröffnet eine eigene Praxis. Das Landärztegesetz im Jahr 2012 hat kommunale Praxen ermöglicht, wie es auch kommunale Schulen oder Kindergärten gibt, doch wahrgenommen wurde diese Option bisher nicht. Die Büsumer Gemeindepraxis ist deutschlandweit die erste ihrer Art.

Vier Ärzte im Ort – auch Volker Staats – geben dafür Zulassung und Selbständigkeit auf, werden Angestellte ihrer Stadt und bekommen feste Grundgehälter zuzüglich Zulagen. In Büsum sind die Bedingungen besonders gut, weil die vier Mediziner schon im gleichen Gebäude praktizieren. Rund 1,8 Millionen Euro investiert die Stadt nun in den Umbau des Hauses. Die Hoffnung: Wenn sie schon keine Großstadt bieten kann, so doch wenigstens ein Angestelltenverhältnis mit flexiblen Arbeitsmodellen und verlässlichen Dienstzeiten.

Harald Stender (63) kümmert sich als Koordinator für ambulante Versorgung um das Projekt. Er ist viel unterwegs in letzter Zeit, um das Modell vorzustellen. "Wir haben Anfragen aus der ganzen Republik", sagt er. Er hofft, dass sich in Büsum ein Miteinander aus Jung und Alt entwickelt, "ein Gewusel von Ärzten mit unterschiedlichen Arbeits- und Lebensvorstellungen, die entweder in Vollzeit oder in Teilzeit in einer Gemeinschaftspraxis arbeiten." Volker Staats soll als jüngster Arzt das Bindeglied zwischen den Generationen sein.

Noch ist die Praxis im Aufbau, doch erste große Erfolge gibt es schon. Stender hat bereits mehrere Anfragen erhalten und Hospitationen vermittelt. Das Beste aber: "Zwei junge Ärzte haben wir unter Vertrag", sagt er. Zumindest vorerst scheint die Versorgung gesichert.

Die Büsumer Gemeindepraxis, betrieben von vier Ärzten, ist deutschlandweit die erste ihrer Art und wird von den Patienten sehr gut angenommen.

Die Gemeindepraxis ist nur eines von vielen Projekten, mit welchen Länder und Kommunen gegen den Ärztemangel in unterversorgten Regionen vorzugehen versuchen. Die Kassenärztliche Vereinigung Schleswig-Holstein (KVSH) etwa fördert Medizinstudenten finanziell, wenn sie praktische Erfahrungen in einer Arztpraxis auf dem Land sammeln. Die Universität Halle-Wittenberg bringt in einem Mentorenprogramm Medizinstudenten mit Landärzten zusammen, damit sie vorurteilsfrei deren Alltag kennen lernen. Im fränkischen Hof haben sich Ärzte verschiedener Fachrichtungen zusammengeschlossen, um Bürokratie abzubauen und lange Wartezeiten zu vermeiden. Im Ärztenetz Südbrandenburg kooperieren derzeit mehr als 60 ambulant tätige Haus- und Fachärzte; auch hier bietet sich Jungmedizinern die Möglichkeit, sich erst einmal anstellen zu lassen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe will künftig mit einem "Versorgungsstärkungsgesetz" erreichen, dass in überversorgten Gegenden Praxen nicht nachbesetzt werden sollen. Doch Ärzteverbände kritisieren den Entwurf. "Man kann die medizinische Versorgung ländlicher Regionen nicht statistisch erzwingen", sagt Thomas Rampoldt, Geschäftsführer der Ärztegenossenschaft Nord. "Man kann niemandem vorschreiben, wo er arbeiten soll. Die Politik muss die Attraktivität vor Ort steigern. Infrastruktur, Schulen, Kindergärten. Das werden die Entscheidungskriterien für junge Mediziner sein."

Während die BÄK von einem allgemeinen Ärztemangel spricht, sehen die gesetzlichen Kassen vor allem ein Verteilungsproblem. Die 2013 in Kraft getretene Bedarfsplanungsrichtlinie soll die gerechtere Verteilung der Kassenarztsitze regeln. Doch laut der Studie "Faktencheck Ärztedichte" der Bertelsmann Stiftung gehen die Planzahlen oft am tatsächlichen Bedarf vorbei. Ihr Fazit: Gerade bei Fachärzten ändert sich wenig, das Stadt-Land-Gefälle wird zementiert.

Das bestätigen auch die Patienten in Büsum. "Wir bräuchten ganz dringend einen Augenarzt", sagt Hansgeorg Franz (83). Eine halbe Stunde müsse er immer in die Stadt Heide fahren – "und wenn man sich im Frühling anmeldet, wartet man bis September auf einen Termin." Seine Frau Johanna (81) vermisst auch Frauen- und HNO-Ärzte im Ort. "Bei uns geht das, weil wir noch selbst fahren", sagt sie. "Aber andere sind zum Facharzt den ganzen Tag unterwegs."

Am 1. April war es in Büsum so weit: Aufbruchsstimmung im Foyer. Staats und seine Kollegen stoßen an. Das Ärztehaus wird zur GmbH, die Einzelkämpfer werden zu Angestellten. Die Feier ist klein, es gibt Häppchen, Büsumer Krabben und Käse-Trauben-Igel. Harald Stender ist bestens gelaunt. Eben hat ihm wieder eine junge Ärztin für eine Hospitation zugesagt.

In zwei weiteren Kommunen des Kreises scheiterte die Idee einer Gemeindepraxis, weil sich nicht alle Ärzte anstellen lassen wollten. Auch Staats ist die Entscheidung nicht leichtgefallen. "Sein eigener Chef zu sein, hatte schon viel Charme", sagt er. Aber er macht sich Sorgen um seine Patienten, um die Familien, die er über Jahre hinweg betreut hat. "Ich will sichern, dass sie auch dann noch versorgt sind, wenn ich einmal im Ruhestand bin."