Es geht ein Riss durch die Gesellschaft

Die Wirtschaft in Deutschland ist stark, schafft aber auch viel Ungleichheit. Wie können Wachstum und gerechte Verteilung verbunden werden? Wir haben fünf Experten gefragt – und keine einfachen Antworten erhalten.

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Text von Benjamin Dierks für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 4/2015 (gekürzte Fassung).

Heinz Bude steht vor dem großen Fenster seines Arbeitszimmers, bückt sich ein wenig und linst durch seine schwarze Brille hinaus. So kann er unter den Baumkronen hindurch direkt auf den Berliner Weißensee blicken. Vor ein paar Jahren ist er aus Kreuzberg hierhergezogen. Ein eleganter Neubau, offene Küche, Parkett, großes, lichtes Esszimmer, Stühle im Bauhaus-Design. Dezente Insignien einer gut gesicherten Existenz. Die Zuversicht, die seine Generation noch geprägt habe, sei heute aber verschwunden. Der Soziologe lehrt als Professor in Kassel, ist 61 Jahre alt und kennt sich aus mit der Abstiegsangst in Deutschland. "Es gibt diese Angst sowohl bei Leuten, die zum Dienstleistungsproletariat gehören, als auch bei der besseren Mittelklasse", sagt Bude.

Rekordbeschäftigung, steigende Löhne, volle Staatskassen – Deutschland steht wirtschaftlich robust da. Doch die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat berechnet, dass das oberste Prozent der Haushalte ein Drittel des Vermögens im Land auf sich vereint. Die ärmere Hälfte der Bevölkerung besitzt demnach gerade einmal 2,5 Prozent. Die OECD warnt seit Jahren vor dieser Spaltung, auch weil sie die Kaufkraft und damit die Konjunktur bremse. Das Weltwirtschaftsforum kommt in einer aktuellen Vergleichsstudie ebenfalls zu einem ernüchternden Schluss: Deutschland, das der sozialen Marktwirtschaft ihren Namen gegeben hat, landet beim Versuch, Wachstum und gerechte Verteilung zu verbinden, weltweit nur im Mittelfeld.

Was die Unsicherheit schürt: Diese Kluft besteht nicht nur zwischen ganz oben und ganz unten, sondern sie zieht sich auch durch die Mitte der Gesellschaft. „Die innere Komposition der Mittelklasse ist dabei, sich deutlich zu verändern, in einen oberen und einen unteren Teil“, sagt Bude. Dazu komme ein stark von Frauen und Einwanderern geprägter Dienstleistungssektor, der kaum Aufstiegschancen biete. "Im Putzgewerbe können Sie nicht aufsteigen, Sie können im Transportgewerbe nicht aufsteigen", sagt Bude. Ungleichheit sei das Thema, das uns weltweit in den kommenden 30 Jahren keine Ruhe lassen werde. "Weil Ungleichheit alles kreuzt."   

"Es ist komplizierter geworden, wir haben Bildungsverlierer aus bildungsreichen Familien und Leute mit Hochschulabschluss und Beruf, die in etwa ein Hartz-IV-Einkommen haben."

Prof. Dr. Heinz Bude, Soziologe an der Universität Kassel

Chancen der Digitalisierung

Katharina Anna Zweig beobachtet genau, wie Dienstleistungen sich verändern  – sowohl für jene, die sie anbieten, als auch für jene, die sie in Anspruch nehmen. Und das ist mitunter besorgnis-erregend. Zweig ist Professorin für Informatik an der Universität Kaiserslautern. Hier hat sie einen Studiengang gegründet, den sie Sozio-Informatik getauft hat. Sie soll ihr helfen, zu verstehen, wie Informationstechnologie und Gesellschaft sich gegenseitig beeinflussen.

Grundsätzlich hätten die Digitalisierung und der immer einfachere Zugang zum Internet die Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe gewaltig verbessert, sagt Zweig. "Die Möglichkeit, mit wenig Geld auf Informationen zuzugreifen, hat die Machtkonzentration eher verringert." Auch Dienstleistungen und Produkte würden erschwinglicher. Auf der anderen Seite gebe es eine Tendenz, Arbeit kaum reguliert zur Verfügung zu stellen. Wie beim umstrittenen Unternehmen Uber, das offiziell Mitfahrgelegenheiten vermitteln will, eigentlich aber private Autofahrer als Taxi-Ersatz anbietet. Uber dient sogar schon als Namensgeber für einen wirtschaftlichen Trend: Uberization. "Dass also Menschen ihre Tageszeit als Ressource über verschiedene Dienste anbieten und dann ein bisschen Taxifahrer sind, ein bisschen Babysitter, ein bisschen alles Mögliche, dadurch natürlich durch keine Lobby vertreten sind oder sehr schwierig rechtlich zu schützen sind", sagt Zweig.  

Für die Nutzer sind diese Dienste zunächst ein Gewinn: günstig, schnell, gut vergleichbar. Doch sie haben ihre Tücken. Sollte zum Beispiel Uber über kurz oder lang Taxiunternehmen vom Markt verdrängen, könne damit auch die Beförderungspflicht verloren gehen, der reguläre Taxifahrer rechtlich unterworfen sind, sagt Zweig. Anders als Taxifahrer könnten private Fahrer Menschen mit besonderen Bedürfnissen die Mitfahrt verweigern. "Wie der Rollstuhlfahrer, der etwas schwieriger mitzunehmen ist, oder wo der Kofferraum nicht ausreicht, und der Blinde mit Blindenhund." Und der Trend endet nicht bei der Taxifahrt. Durch die Digitalisierung können Menschen immer individueller behandelt werden. Was zunächst gut klingt, könnte ziemlich ungerechte Folgen haben. "Durch die meisten Algorithmen werden die privilegiert, die genug Geld haben, hochgebildet sind und sich fit halten", sagt Zweig. "Wer nicht dazuzählt, wird auf ganz individuelle Weise nachteilig behandelt."

Arm und Reich, Zugang zu Bildung oder nicht - Ungleichheit ist und bleibt ein großes Thema in unserem Land.

Die Frage nach dem Verzicht

Kann eine so individualisierte Gesellschaft Platz für Empathie und Solidarität entwickeln? Die Forschung zeige, dass kleinere Gruppen der Gesellschaft durchaus dazu bereit seien, sich in andere Lebenskonstellationen hineinzuversetzen, sagt Uwe Schneidewind. Der Wirtschaftsprofessor ist Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie. Er glaubt nicht daran, dass wir in unserem auf Wirtschaftswachstum ausgelegten System zum Wohle aller arbeiten: "Wir müssen uns intensiver darüber Gedanken machen, was eigentlich Wohlstand ausmacht."

Schneidewind glaubt, dass auch Verzicht derer dazugehört, die viel haben, um ein besseres Leben aller zu ermöglichen: "Es geht darum, alternativen Wohlstand voranzutreiben und dafür bereit zu sein, Volkswirtschaften mit viel weniger materiellem Wohlstand zu erzeugen als heute, die demokratischer sind, höhere Zufriedenheit über das gesamte Spektrum der Bevölkerung erzielen und ein gutes Leben ermöglichen." Aber wer sagt, was gutes Leben ist? Schneidewind stellt sich eine Art von gesellschaftlichen Laboren vor, Stadtteile, Städte oder Gemeinden, in denen ausprobiert werden soll, was gut ist für das Miteinander der Menschen. Rauchverbote und Tempo-30-Zonen zum Beispiel hätten für Raucher und Autofahrer zwar eine Einschränkung bedeutet. Nichtrauchern und Anwohnern hätten sie aber viel mehr Lebensqualität verschafft.

Soziale Gerechtigkeit hält eine Gesellschaft zusammen

Eine zu große soziale Kluft kann die Wirtschaft bremsen, warnt das DIW. Die Konjunktur laufe besser, wenn die Unterschiede nicht zu groß sind. Was hinzukommt: Soziale Gerechtigkeit halte unsere Gemeinschaft zusammen, sagt Christina von Braun, Kulturwissenschaftlerin und emeritierte Professorin der Berliner Humboldt-Universität. Diese Beglaubigung der Gemeinschaft hält sie für überlebenswichtig. "Ich fühle mich von einer Gemeinschaft gut aufgenommen, wenn ich das Gefühl habe, dass diese Gemeinschaft versucht, immer wieder Gerechtigkeit herzustellen", sagt von Braun. Wie schnell eine vermeintlich sichere Situation umschlagen kann, hat sie anhand ihrer eigenen bewegten Familiengeschichte erforscht. Ihre Großmutter starb als Kommunistin in einem Gestapo-Gefängnis, ihr Onkel war Wernher von Braun, der für die Nazis Raketen baute.

"Wir produzieren derzeit starke Gewinner und Verlierer. Also einerseits Eliten, die gewaltige Gestaltungsmöglichkeiten haben, und auf der anderen Seite Menschen, die schon in der Grundschule vermittelt bekommen: Außer Hartz IV ist für dich nichts drin. Es geht darum, das wieder anzugleichen."

Prof. Dr. Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie

Wie kann Gemeinschaft gestaltet werden?

Was ist gutes Leben, wie viel Gemeinschaft brauchen wir, wer kriegt wie viel? Und welche Rolle muss die Politik spielen? Eigentlich ist vieles davon eine Frage der richtigen Vermittlung zwischen verschiedenen Akteuren einer Gesellschaft, wenn man Armin Nassehi zuhört. "Es wird immer soziale Ungleichheit geben", sagt der Münchner Soziologe. "Die interessante Frage ist, welche Art von Ungleichheit als legitim angesehen wird, welche Lohnspreizung, welche Bewertung von bestimmten Berufen." Der Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität hält gern Vorträge für Führungskräfte aus der Wirtschaft. Denen erzählt Nassehi dann, dass Führung heute nicht mehr Stärke und zentrale Planung heißt, sondern Leute zusammenzubringen, die unterschiedliche Perspektiven haben.

Das gelte auch für die Politik. Sie müsse mehr moderieren als dirigieren. „Eigentlich hat sich an den Grundkonflikten moderner Gesellschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht viel geändert“, sagt Nassehi. Es stünden Politik und Recht mit ihren Gleichheits- und Freiheitsversprechen gegen die Ökonomie, die automatisch Ungleichheit schafft. "Das sind unterschiedliche Logiken und Erfolgsbedingungen, die irgendwie aufeinander bezogen werden müssen, weil das eine ohne das andere nicht zu kriegen ist." Gibt es also keine Antwort auf die Angst davor, auf der Verliererseite zu landen? "Gerade auf sozialpolitische Fragen gibt es unglaublich viele einfache Antworten", sagt Nassehi. "Aber interessanterweise sind sie in ihrer Einfachheit bisweilen falsch."