Eine Lehrerin und Schüler einer Herforder Schule stehen auf dem Schulhof und singen.

Da ist Musik drin

Kann der tägliche Umgang mit Musik die Integration von Grundschülern mit Migrationshintergrund und begrenzten Deutschkenntnissen positiv beeinflussen? Erleichtert ihnen Musik sogar das Leben in ihrer neuen Heimat? Ein Tag in einer "Musikalischen Grundschule" in Herford gibt Antworten.

Infos zum Text

Text von Harald Braun für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 4/2015 (gekürzte Fassung).

"Dum-Chi-Ka", ruft Robert (10) und schlägt zum Takt die Hände abwechselnd gegen seine Brust oder die Oberschenkel, mal schneller, mal langsamer, aber immer wieder: Ein wenig scheu schaut er dabei in die Runde und beobachtet aus den Augenwinkeln die anderen Kinder im Raum, die unter Anleitung ihrer Musiklehrerin Ann Kathrin Hollmann ebenfalls mit der koordinativen Rhythmus-Übung beschäftigt sind. Robert wird beim Body-Percussion immer lockerer, je länger die Übung dauert. Am Ende wirkt seine fröhliche Performance wie eine Mischung aus lautem Rufen und geschmeidigem Rap-Rhythmus. Roberts Augen strahlen, selbstvergessen ruft er noch zwei Mal: "Dum-Chi-Kaaaaa – Dum-Chi-Kaaaa ...!", bis er bemerkt, dass seine Lehrerin den Zeigefinger auf ihre Lippen gelegt hat – an der "Musikalischen Grundschule" in Herford das Signal für alle, nun einen Moment still zu sein.

Robert trägt einen blau-roten Spiderman-Einteiler und das mit souveräner Selbstverständlichkeit. Es ist offensichtlich: Robert liebt die Idee, ein Superheld zu sein. Da muss man nicht viel reden, da fliegt man zur Not einfach davon, wenn das Leben zu kompliziert wird. Robert ist kein ängstlicher kleiner Bursche, er will wahrgenommen werden. Wer die Reaktionen seiner Mitschüler sieht, merkt bald: Robert hat hier schon Freunde, obwohl er noch nicht lange in Deutschland ist. Nur wenn man ihn direkt darauf anspricht und ihn etwa danach fragt, was ihm an Spiderman so gut gefällt, schweigt er ein wenig verlegen. Man spürt, dass es ihm unangenehm ist, sich noch nicht so gut und treffend ausdrücken zu können. Robert kommt aus Rumänien, erst seit vier Wochen ist er in Deutschland, ein Flüchtlingskind.

"Robert ist noch sehr unsicher, er ist ja erst kurz bei uns und spricht nur wenig Deutsch. … Aber bei der Musik macht er gerne mit, da hat er Erfolgserlebnisse."

Theresa Nolte, stellvertretende Schulleiterin der Herforder "Schule an der Landsberger Straße" und Koordinatorin für die "Musikalische Grundschule"

Schule als Heimat

Aber kann Musik tatsächlich jungen Flüchtlingen helfen? Heranwachsende, die gerade erst nach Deutschland gekommen sind, die Sprache noch nicht verstehen und womöglich noch traumatisiert sind von den Erlebnissen in ihrer Heimat und auf der Flucht? Fördert die "Musikalische Grundschule" nachhaltig, dass sie sich leichter und schneller in Deutschland integrieren?

Für Theresa Nolte von der Herforder Grundschule ist das keine Frage. Sie nickt lächelnd: "Natürlich hilft Musik gerade auch unseren Flüchtlingskindern, die am Anfang noch einige Probleme haben, sich immer so gut auszudrücken! Dazu kann ich Ihnen später gern noch ein bisschen mehr erzählen, aber erst mal müssen wir raus, gleich gibt’s hier einen Flashmob!"

Einen was? Nolte lacht. "Kennen Sie doch sicher von YouTube?" Okay, das schon, das weiß man ja: So ein Flashmob ist ein spontaner Menschenauflauf unter einem bestimmten, oft kulturellen oder politischen Motto. In einer Herforder Grundschule allerdings erwartet man den nicht unbedingt. Einer sogenannten Brennpunktschule mit 280 Schülern, wie es die Direktorin Sabine Zülka erläutert, mit 114 Kindern, die von Armut betroffen sind, und einem Migrationsanteil von weit mehr als 50 Prozent. Doch heute um zehn Uhr sind alle Kinder und Pädagogen der Grundschule, die seit 2004 beim bundesweiten Programm "Ideen für mehr! Ganztätig lernen" mitmacht und sich in Pädagogik und Reformwillen längst zu einer Musterschule entwickelt hat, ausgesprochen "happy". Zu dem gleichnamigen Wohlfühl-Lied von Pharrell Williams tanzen die Schüler jetzt nämlich alle auf dem Schulhof.

Die Lehrerin Natali Rompa hat die Choreographie von "Happy" mit allen Klassen eingeübt, mit Erfolg: Die Schule tanzt und lacht synchron, dazu scheint die Sonne über Herford. Es wird laut, sehr laut auf dem Schulhof – die Energie, die von den Kindern ausgeht, würde reichen, um eine Dampflok in Gang zu setzen. Ein Kraftwerk der Freude, das anschließend auch beim Singen des Schullieds nicht aufhört, Spaß zu produzieren. Das Schullied haben die Lehrer selbst geschrieben. Zeilen wie "Wir sind alle anders, doch das ist nicht schlimm, viele Länder, viele Sprachen, das ist ein Gewinn" geben die pädagogische Richtung des Kollegiums vor. Harmonie wird angestrebt, sanfte Pädagogik ohne Druck.

Musik als universelle Sprache: Egal, woher sie kommen - die Kinder der Herforder "Schule an der Landsberger Straße" haben Spaß beim gemeinsamen Singen.

Trommelfeuer

Henning Niedergesäß ist selbstständiger Musikerzieher und Percussionist. Wenn er lacht – und das tut er gerne und oft –, dröhnt es im Raum und die Wände wackeln. Dass dieser Vollblutmusiker sich vorwiegend an Trommeln zu schaffen macht, erscheint naheliegend. Seine Herforder Kinder lieben ihn. Sie trommeln und hauen mit Inbrunst auf ihre Pauken. Dabei lernen sie, so Niedergesäß, Gemeinschaftsbildung, soziale Struktur, Koordination und Rhythmusgefühl. Und nicht zuletzt: über Musik Sprache zu erlernen.

"Es geht nicht darum, hier perfekte Musik zu machen, es geht nicht um Können. Die Kinder sollen einfach mal aus sich herauskommen, sich gut fühlen, sich ausleben."

Henning Niedergesäß, Musikerzieher an der Herforder "Schule an der Landsberger Straße"

Oh ja, das tun sie: "Eine wilde Kuh macht laut MUH!", rufen sie und trommeln dazu, später wird zum Rhythmus des berühmten Queen-Oldies "We will, we will rock you" einfach die Zeile "Wir wolln, wir wolln Entchen!" gejohlt. Das ist textlich gewagt, macht aber Spaß. Und das sieht man auch Sarah an, dem stets freundlich lächelnden Mädchen mit der Brille und den Rastazöpfen, deren Mutter aus Ghana stammt, die in England geboren ist, lange in der Schweiz gelebt hat und die nun versucht, nach Englisch, Französisch und Spanisch auch noch Deutsch zu lernen.

Über Musik zur Sprache: Musikerzieher Henning Niedergesäß und seine Schüler während des Trommelunterrichts.