Drei Redner, darunter Vorstandsvorsitzender Aart De Geus, diskutieren auf dem Podium.

Herausforderungen für die neue EU-Führung nach den Europawahlen

Die EU braucht eine neue Führung mit Vision. So lautet das Fazit der Teilnehmer des 5. Brussels Think Tank Dialogue. Über 400 Teilnehmer aus ganz Europa diskutierten auf der von der Bertelsmann Stiftung und neun weiteren Denkfabriken ausgerichteten Veranstaltung über die Herausforderungen für die neue EU-Führung.

Die EU braucht eine neue Führung mit Vision. So lautet das Fazit der Teilnehmer des 5. Brussels Think Tank Dialogues. Über 400 Teilnehmer aus ganz Europa diskutierten auf der von der Bertelsmann Stiftung und neun weiteren Denkfabriken ausgerichteten Veranstaltung über die Herausforderungen für die neue EU-Führung nach den Europawahlen. So müsse zum Beispiel die bestehende Lücke zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten geschlossen werden und ein neuer Weg zur Bürgerbeteiligung gefunden werden.

Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung Aart De Geus erklärte in seiner Eröffnungsrede, dass das Jahr 2014 unter besonderen Vorzeichen stehe, da im Gefolge der Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai die gesamte politische Führung der EU ausgetauscht werde. Die Europawahlen stünden jedoch unter einem ungünstigen Stern, führte De Geus aus. Es sei mit einem Erstarken der anti-europäischen Parteien zu rechnen, was auf den Vertrauensverlust der Bürger in die EU-Institutionen zurück zu führen sei und die Entscheidungsfindung im Parlament erheblich erschweren dürfte. Die Bürger der EU wollten einerseits eine Union, so De Geus, die ihnen Sicherheit, Frieden und Wohlstand biete und die eine starke Rolle auf der globalen Ebene spiele, um ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen zu vertreten. Andererseits stiegen aber ihre Ansprüche auf stärkere demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten in der europäischen Politik. Die gegenwärtige EU-Führung habe es bislang nicht vermocht, das verloren gegangene Vertrauen der EU-Bürger in das europäische Projekt wiederherzustellen. Hier bestehe dringender Handlungsbedarf, mahnte De Geus.

In diesem Zusammenhang hatten die beteiligten Think-Tank-Partner drei Schlüsselherausforderungen für die neue politische Führung der EU identifiziert, welche in den anschließenden Podiumsdiskussionen erörtert wurden:

  1. die Verbesserung des Zusammenspiels zwischen Europäischem Parlament und nationalen Parlamenten in EU-Angelegenheiten, 
  2. die Vollendung der Bankenunion und der Wirtschafts- und Währungsunion sowie
  3. die Neuausrichtung der europäischen Außenpolitik.

Die Teilnehmer der ersten Podiumsdiskussion waren sich in der Beobachtung einig, dass die Parlamente während der Eurokrise aufgrund der Renaissance der Regierungszusammenarbeit in weiten Teilen geschwächt worden seien. Die Europaabgeordnete Danuta Hübner ging sogar so weit zu sagen, dass der Europäische Rat das EU-Parlament vom Willensbildungsprozess ausgeschlossen hätte.

Die Redner zeigten im Folgenden eine Reihe von Möglichkeiten auf, wie die Rolle der Parlamente wieder gestärkt werden könnte. Roger Liddle, Mitglied des britischen House of Lords, sprach sich dafür aus, dass sich die nationalen Regierungen in EU-Angelegenheiten stärker gegenüber den Parlamenten verantworten sollten. Ein positives Beispiel brachte Michael Link in die Diskussion ein. Der ehemalige deutsche Staatsminister im Auswärtigen Amt berichtete, dass der Deutsche Bundestag im Laufe der Eurokrise mehr Einfluss auf die Regierung erhalten hätte. Die Bundesregierung müsse nun vor bestimmten Entscheidungen auf EU-Ebene die Zustimmung des Bundestags einholen.

In eine ähnliche Richtung ging der Vorschlag von Giles Merrit, dem Generalsekretär von Friends of Europe. Er empfahl, dass sich jedes einzelne Kommissionsmitglied künftig vor dem Europäischen Parlament verantworten sollte, während Sonia Piedrafita vom Think Tank CEPS dafür plädierte, den sog. Subsidiaritäts-Frühwarnmechanismus für die nationalen Parlamente zu reformieren und eine engere Zusammenarbeit der Parlamente in EU-Angelegenheiten zu ermöglichen.

Zu Beginn der zweiten Podiumsdiskussion zur Vollendung der Bankenunion und der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) rief Valerie Herzberg, Mitglied des Kabinetts des Europäischen Ratspräsidenten Hermann van Rompuy den Teilnehmern in Erinnerung, dass noch vor wenigen Jahren niemand mit einer Bankenunion gerechnet hätte. Der im Dezember erzielte Kompromiss zwischen den EU-Finanzministern sei ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung.

Wesentlich kritischer sahen dies ihre Mitdiskutanten. Professor Peter Bofinger von der Universität Würzburg warnte vor zu großem Optimismus. Die Bankenunion sei bei weitem nicht das ideale Instrument. Darüber hinaus vertrat er die Ansicht, dass die WWU nach wie vor instabil und mit Risiken behaftet sei, da diverse Mitgliedstaaten von Insolvenz bedroht seien. Aus diesem Grund benötigte die Eurozone einen stärkeren institutionellen Rahmen. Auch seien Eurobonds zur Stabilisierung der Staatsschulden unumgänglich. 

Eric de Keuleneer von Credible SA teilte den Standpunkt seines Vorredners, dass die bisherigen Maßnahmen nicht weit genug gingen. Er schlug daher vor, die Bankenunion mit einer Einlagensicherung auszustatten. Darüber hinaus sei er der Auffassung, dass das Modell der Universalbanken überholt und zum Scheitern verurteilt sei. Benoit Lallemand von Finance Watch bezeichnete den im Dezember vereinbarten einheitlichen europäischen Mechanismus zur Bankenabwicklung als viel zu schwerfällig. Er warb dafür, ihn so auszugestalten, dass schneller und flexibler reagiert werden könne. 

Die dritte Diskussionsrunde befasste sich mit den Schlüsselaufgaben für eine neue EU-Außenpolitik. David Cvach vom französischen Außenministerium war der Meinung, dass der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) nach Startschwierigkeiten inzwischen seine Rolle gefunden hätte. Die EU müsse nun stärker in die Lage versetzt werden, mit Notsituationen in der Nachbarschaft der EU umzugehen. Eine einheitliche europäische außenpolitische Strategie, z.B. gegenüber Syrien, sei noch nicht erkennbar.

Vivien Pertusot, vom Think Tank IFRI äußerte die Meinung, dass die Mitgliedstaaten und der EAD bezüglich der Beziehungen zu Russland und der Ukraine Schwäche gezeigt hätten. In Bezug auf die europäische Verteidigungspolitik zog er eine verhaltene Bilanz des Dezembergipfels, da dieser keine konkreten Ergebnisse geliefert habe. Die Debatte müsse aber fortgeführt werden.

Eine der Schlüsselfragen, die nach dem Dafürhalten von Ronja Kempin, Stiftung Wissenschaft und Politik, beantwortet werden müsse, sei, welche Institutionen für die europäische Außenpolitik zuständig sein sollten. Das Verhältnis von EAD, Kommission und Mitgliedstaaten sollte dringend geklärt werden. Ein möglicher erster Schritt könnte sein, eine Kerngruppe von Mitgliedstaaten damit zu beauftragen, die Prioritäten für die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu erarbeiten.

Zum Abschluss der Veranstaltung zogen die Direktoren der Think Tanks Bilanz der vorangegangenen Diskussionen. Der Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung Aart De Geus fällte ein kritisches Urteil. Die Diskussionen hätten deutlich gemacht, dass die EU eine neue Führung mit Vision brauche. Die bestehende Lücke zwischen Europäischem Parlament und den nationalen Parlamenten müsse dringend geschlossen werden und neue Wege zur Bürgerbeteiligung seien unabdingbar. Die politische Machtbasis in der EU liege nach wie vor in den Hauptstädten und nicht auf europäischer Ebene. Die nationalen Politiken müssten dringend europäisiert werden und nicht umgekehrt. Die Tatsache, dass das gegenwärtige Vertragswerk unzureichend sei, habe zu einem Teufelskreis der mangelhaften Regierung der EU geführt.

Philippe Herzog von Confrontations Europe unterstütze De Geus‘ Position. Die gegenwärtige Architektur der EU sei in der Tat nicht geeignet, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. Der Direktor von CEPS Guntram Wolff kam zu dem Schluss, dass an Änderungen des EU-Vertragswerks kein Weg vorbei gehe. In diesem Zusammenhang wies SWP-Direktor Volker Perthes darauf hin, dass eine Vertragsänderung der einzige Weg sein könnte, um das Vereinigte Königreich in der EU zu halten. Pierre Defraigne von Madariaga trat in diesem Zusammenhang für die erneute Einberufung eines Konvents zur Reform des EU-Vertrags ein.

Über den Brussels Think Tank Dialogue

Der Brussels Think Tank Dialogue ist ein von zehn führenden Denkfabriken jährlich veranstaltetes Forum, in dem die Lage der Europäischen Union analysiert und zukunftsweisende Lösungsansätze für drängende Probleme aufgezeigt werden.

Die Partner des Brussels Think Tank Dialogue sind: Bertelsmann Stiftung, Bruegel, Centre for European Policy Studies (CEPS), Confrontations Europe, Egmont Institute, European Policy Centre (EPC), Friends of Europe – Les amis de l'Europe, Institut français des relations internationales (IFRI), Madariaga – the College of Europe Foundation, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).

Auf dem Podium des 5. Brussels Think Tank Dialogues machten die Diskutanten sich Gedanken über Europa und die Zukunft nach den Wahlen. (Foto: Philippe Veldeman)