EU sollte sich verstärkt der Gesellschaft in der Ukraine zuwenden

Teile der ukrainischen Gesellschaft haben sich gegen ihre Regierung aufgelehnt – bis hin zu den blutigen Straßenkämpfen der vergangenen Tage in Kiew. Nun gilt es auch für die EU, sich im Umgang mit der Ukraine verstärkt der Gesellschaft des Landes zuzuwenden und sie aktiv in Gestaltungsprozesse einzubeziehen.

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Jake Benford
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Sabine Donner
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Blutige Straßenkämpfe in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, eine Regierung, die gewaltsam gegen ihre eigene Bevölkerung vorgeht, zahlreiche Tote und Verletzte – diese Schreckensnachrichten bestimmten in den letzten Tagen die Berichterstattung über die Ukraine. Während die EU-Außenminister auf einer Sondersitzung Sanktionen gegen die politische Führung der Ukraine und gegen weitere Verantwortliche der Gewalt verhängt haben, bemüht sich das EU-Trio aus Außenminister Frank-Walter Steinmeier und seinen Amtskollegen Radoslaw Sikorski aus Polen und Laurent Fabius aus Frankreich fieberhaft um eine politische Lösung; das Trio hat nun einen Fahrplan für eine politische Lösung im Machtkampf in der Ukraine vorgeschlagen. Demnach sollen eine Übergangsregierung gebildet, eine Verfassungsreform begonnen und Parlaments- und Präsidentenwahlen abgehalten werden. Janukowitsch und die Opposition müssten diesem Fahrplan aber noch zustimmen, hieß es.

Auch die mittel- und osteuropäischen EU-Mitglieder betrachten die Lage mit größter Sorge: Ungarn hält eine Flüchtlingswelle aus der Ukraine für möglich und trifft entsprechende Vorbereitungen – in der Ukraine leben auch 150.000 ethnische Ungarn. Hilfsorganisationen im Nachbarland Polen rufen zu Spenden für die Opfer in der Ukraine auf. In Polen protestierten Polen und Ukrainer gemeinsam vor wenigen Tagen vor der ukrainischen Botschaft in Warschau. Aus Solidarität mit den Regierungsgegnern in Kiew blockierten etwa 300 Menschen den polnisch-ukrainischen Grenzübergang Korczowa-Krakowiec. Unweit der EU-Außengrenze errichteten sie auf ukrainischer Seite eine Blockade, hieß es in einer Mitteilung der polnischen Grenzschutzbehörde. Auf der Straße und an der Blockade brannten aufgestapelte Reifen. Die ukrainischen Grenzschützer stellten die Grenzabfertigung ein. Reisende in die Ukraine wurden aufgefordert, auf andere Grenzübergänge auszuweichen. "Im politischen Sinn ist das eine schrecklich verspielte Chance", sagte Sikorski über die Entwicklung in der Ukraine bereits nach der ersten Welle der Auseinandersetzungen mit Toten und Verletzten in dieser Woche.

Im Auftrag der Bertelsmann Stiftung hat das Warschauer Institute of Public Affairs (ISP) in einer aktuellen Studie die Rolle der Gesellschaft in der ukrainischen Politik beleuchtet. Die Autoren gehen dabei auch auf die Wirkung sozialer Medien in den letzten Wochen und Monaten ein. Fazit der Studie: Die EU sollte sich in ihrer Nachbarschaftspolitik im Hinblick auf die Ukraine mehr und mehr der Gesellschaft zuwenden und sie aktiv in Gestaltungsprozesse einbeziehen. Ein politisches Bekenntnis für die Einführung der Visafreiheit für ukrainische Bürger, sobald die ukrainische Verwaltung ihre Verpflichtungen aus dem Aktionsplan zur Visaliberalisierung erfüllt, würde darüber hinaus ebenfalls die Glaubwürdigkeit der EU in den Augen der ukrainischen Gesellschaft erhöhen. Das ISP führte, ebenfalls im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, zudem verschiedene Interviews in Polen, um die Sicht von Vertretern unseres Nachbarlandes auf die Situation in Kiew zu beleuchten.

Ein europäischer "Rettungsanker", wie ein Bekenntnis zur Visafreiheit ihn darstellen könnte, wäre insofern umso wichtiger, als mittlerweile 72 Prozent der Ukrainer kein Vertrauen in die Unabhängigkeit ihrer eigenen Justiz mehr haben. Der soeben vorgelegte Bertelsmann Transformation Index (BTI) spricht klare Empfehlungen zur Rechtsreform im Lande aus. Die Ukraine wäre zudem gut damit beraten, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben und auf den Beitritt einer Eurasischen Zollunion mit Russland, Belarus und Kasachstan zu verzichten.

Die Bertelsmann Stiftung hat zusammen mit der Konrad-Adenauer-Stiftung den Oppositionsführer Vitali Klitschko für den 1. März zu einer öffentlichen Debatte nach Paderborn eingeladen.