Pressemitteilung, , Gütersloh: Mehr Demokratie wagen

Kommentar von Hauke Hartmann zu den aktuellen politischen Entwicklungen in Nordafrika und dem Nahen Osten

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Die Länderanalysen des BTI 2010 für den arabischen Raum bestätigen die politischen und wirtschaftlichen Reformblockaden, gegen die Demonstranten von Tunis über Kairo bis Amman auf die Straße gehen.

 

Korrupte Präsidialregime und konservative Monarchien verwehren für gewöhnlich jegliche tatsächlichen Beteiligungsmöglichkeiten und Mitspracherechte. Wahlrecht, Meinungsfreiheit und Menschenrechte werden systematisch eingeschränkt oder ganz verweigert. Umfangreiche Sicherheitsapparate fördern die Herrschaft einer kleinen Führungsschicht, die Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit aushebelt, sich durch korrupte Praktiken und Amtsmissbrauch bereichert oder Regimekritiker verfolgen lässt. Gegen die fortwährende Entrechtung und Entmündigung, die der BTI seit seinem ersten Erscheinen 2003 für nahezu alle Länder des arabischen Raums kontinuierlich konstatieren musste, richtet sich der politische Protest der betroffenen Zivilgesellschaft.

Im regionalen Durchschnitt liegen die Demokratiewerte für Nordafrika und den Nahen Osten seit Jahren weit hinter denen jeder anderen Weltregion. Dennoch zeigen detaillierte Länderanalysen des BTI die Fehlerhaftigkeit eines überheblichen oder auf sicherheitspolitische Interessen verengten westlichen Stereotyps auf, das den Bürgern des arabischen Raums deshalb ein selbstständiges Streben nach demokratischen Regierungsformen abspricht. Unter der Oberfläche scheinbar stabiler repressiver Regime formierten sich seit geraumer Zeit politische und soziale Protestbewegungen, die belegen, dass der genuine Wille nach Demokratie und Menschenrechten nicht bestimmten Kulturkreisen vorbehalten ist.

In wirtschaftlicher Hinsicht haben sich die Ineffizienz aufgeblasener Staatsapparate und die grassierende Korruption und Patronage mit einer vorrangig auf Wachstum und Liberalisierung ausgerichteten Wirtschaftspolitik verbunden. Soziale Missstände wie das zunehmende Stadt-Land-Gefälle, die rapide steigende Jugendarbeitslosigkeit und die stetig wachsende Schere zwischen Arm und Reich wurden in der zurückliegenden Dekade weitgehend ignoriert. Dabei verweist der BTI seit Jahren auf die Diskrepanz der in den vergangenen Jahren zumeist günstigen weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, unter anderem durch steigende Rohstoffpreise, und der Vernachlässigung von Armutsbekämpfung, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Sozialreformen. Unter Verweis auf die Hungerkrawalle im Frühjahr 2008 und die Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften betont der Tunesien-Bericht des BTI 2010 die Notwendigkeit im von Ökonomen gelobten nordafrikanischen „Musterland“, die wachsenden sozialen Ungleichheiten und die hohe Arbeitslosigkeit anzugehen. Der Ägypten-Bericht des BTI 2010 verweist darauf, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht von den neoliberalen Wirtschaftreformen der Nazif-Regierung profitiert hat und die Anzahl der Streiks und Proteste entsprechend zunahm.

Als Träger seiner außen- und sicherheitspolitischen Architektur im Nahen Osten und Nordafrika hat sich der Westen deshalb politisch bedenkliche und sozial instabile Regime als Kooperationspartner gewählt. Das Kalkül, dass repressive Regime stabilere Verhältnisse und damit mehr außenpolitische Verlässlichkeit garantieren könnten, erweist sich aus Sicht des BTI nicht erst in diesen Tagen als folgenschwerer Fehler, der die Glaubwürdigkeit des Westens als Verfechter von Demokratie und Menschenrechten untergräbt. Der vorgebliche Dualismus sicherheitspolitischer Realpolitik und demokratieförderndem Idealismus sollte der Einsicht weichen, dass gute Regierungsführung und langfristige Stabilität nicht ohne umfassende politische und wirtschaftliche Beteiligung, nicht ohne rechtsstaatliche Demokratie und sozialpolitisch flankierte Marktwirtschaft zu erreichen ist.

Deshalb sollten die Europäische Union und die USA den ihnen verbliebenen Einfluss auf die Machthaber in Nordafrika und den Nahen Osten nutzen, um sie zu tiefgreifenden politischen und sozialen Reformen zu drängen. Der dafür notwendige politische Dialog sollte die Mitsprache aller zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen enthalten.

Dies schließt auch die islamistischen Organisationen ein, die im Westen mitunter mit Skepsis und der Sorge vor fundamentalistischer Radikalisierung betrachtet werden. Ländergutachten und Dialogforen der Bertelsmann Stiftung legen vor allem drei Gründe für den Dialog mit den Islamisten nahe:

Erstens ist ein Demokratisierungsprozess nicht glaubwürdig, der nicht die Anliegen aller wesentlichen Akteure berücksichtigt. Die BTI-Ländergutachten zeigen für zahlreiche arabische Länder auf, dass die Islamisten häufig die wichtigsten oder gar einzigen Organisationen stellen, die sich unter repressiven Regimen als politische Kraft behauptet haben und seit Jahren Demokratie, Korruptionsbekämpfung, soziale Verantwortung und gute Regierungsführung einfordern. Da sie in vielen Ländern die zentralen sozialen Aufgaben des Staates längst übernommen haben, verfügen sie nicht nur über ein gewisses Maß an Glaubwürdigkeit, sondern auch über die notwendige Infrastruktur, um die sozialen Forderungen der protestierenden Bevölkerungen aktiv aufzunehmen.

Zweitens wird der Machthunger islamistischer Organisationen in der öffentlichen Diskussion stark überzeichnet. Tatsächlich sind sie bereit, wie in Algerien als Juniorpartner einer Koalitionsregierung beizutreten oder wie in Marokko für sie weltanschaulich problematische Kompromisse wie die dortige Reform des Familienrechtes mitzutragen. In Ägypten, Bahrain, Kuwait, Jordanien und Marokko zogen die Islamisten Zurückhaltung der Konfrontation vor und stellten im Schnitt nur in einem Drittel der Wahlkreise Kandidaten auf, auch um die Machthaber nicht zu provozieren.

Drittens betrachten sich Gruppen wie die Muslimbruderschaft in Ägypten primär als religiöse Organisationen mit Bildungsauftrag und sozialen Aufgaben. Auf einer Tagung mit Vertretern islamistischer Organisationen aus Ägypten, Algerien, dem Jemen, Jordanien, Kuwait und Marokko, die die Bertelsmann Stiftung vor einiger Zeit gemeinsam mit dem Carnegie Endowment for International Peace ausrichtete, unterstrich Mohamed Saad al-Katatni, Mitglied des Leitungsrates der Muslimbruderschaft und aktuell Verhandlungsführer in den Gesprächen mit Vizepräsident Omar Suleiman, dass sich die Islamisten als Vertreter von Bewegungen verstehen, denen es nicht zuletzt um soziale Fortschritte in ihren Ländern und die Beseitigung von Ungerechtigkeit und politischer Unterdrückung gehe. Dies stimmte seines Erachtens in vielen Punkten durchaus mit westlichen Vorstellungen von Demokratie, Gleichberechtigung, Armutsbekämpfung und Freiheit überein.

Gleichwohl ist der Islamismus in seinem regionalen Erscheinungsbild sehr heterogen und vertritt hinsichtlich der Militanz und der Verbindlichkeit von Glaubenssätzen für die Politik in verschiedenen Ländern der arabischen Welt zum Teil unterschiedliche Positionen. Auch die Muslimbruderschaft weist einen eher gemäßigten und einen radikalen Flügel auf. Zudem bleibt kritisch zu verfolgen, wie sich islamistische Organisationen gegenüber Israel und dem Friedensprozess im Nahen Osten verhalten. Doch weder sind Organisationen wie die Muslimbruderschaft mit Terrornetzwerken wie Al-Quaida zu verwechseln, noch ähnelt der Transformationsprozess in Ägypten der Umbruchsituation im Iran 1979.

Die westlichen Regierungen sollten die Fehler der Vergangenheit vermeiden, sich auf die Suche nach „starken Männern“ und vermeintlichen Stabilitätsgaranten zu machen. Die Demokratieagenda der Demonstranten hat in beeindruckender Weise verdeutlicht, dass es im arabischen Raum mehr politische Alternativen gibt, als zwischen repressiver Herrschaft und fundamentalistischem Gottesstaat zu wählen. Entsprechend sollten die Regierungen Europas und der USA einen Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften in Nordafrika und dem Nahen Osten anstreben. Die islamistischen Organisationen dabei wie in der Vergangenheit zu marginalisieren oder ignorieren, würde vor allem deren radikale Flügel stärken.

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Über den Transformation Index BTI:
Der Transformation Index der Bertelsmann Stiftung analysiert und bewertet die Qualität von Demokratie, Marktwirtschaft und politischem Management in 128 Entwicklungs- und Transformationsländern. Gemessen werden Erfolge und Rückschritte auf dem Weg zu rechtsstaatlicher Demokratie und sozialpolitisch flankierter Marktwirtschaft. Detaillierte Ländergutachten sind die Grundlage für die Bewertung des Entwicklungsstandes und der Problemlagen sowie der Fähigkeit politischer Akteure, Reformen konsequent und zielsicher umzusetzen. Der Transformation Index der Bertelsmann Stiftung ist damit der erste international vergleichende Index, der die Qualität von Governance mit selbst erhobenen Daten misst und eine umfassende Analyse von politischen Gestaltungsleistungen in Transformationsprozessen bietet.