Pressemitteilung, , Gütersloh: Afghanistan: politische und wirtschaftliche Situation ist desaströs

Aktueller Transformations Index bewertet die Lage in der gesamten Region als kritisch

  • PDF

 

Während die Weltöffentlichkeit heute Nacht die Pläne von Präsident Obama über die Aufstockung von Truppen und Abzugspläne verfolgen wird, verweisen die gestern veröffentlichten Zahlen der Bertelsmann Stiftung vor allem auch auf die prekäre Situation der Zivilgesellschaft des Landes und in den Nachbarstaaten. Danach ist die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen nach wie vor durch die gravierenden Probleme bei der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols des afghanischen Staates stark eingeschränkt. Armee und Polizei sind nicht in der Lage, den Re­gierungsanspruch der staatlichen Organe im ganzen Land durchzusetzen. Trotz der massiven Präsenz ausländischer Soldaten im Rahmen der Internationalen Schutztruppe für Afghanistan (ISAF) hat sich die Sicherheitslage in den letzten Jahren verschlechtert. Noch gravierender sind jedoch die Rückschritte im Bereich der politischen Beteiligung, der Rechtsstaatlichkeit sowie der politischen und sozialen Integration der Bevölkerung.

 

„Bei der Suche einer erfolgreichen Strategie für Afghanistan darf nicht länger vorrangig die militäri­sche Situation im Fokus stehen“, sagte Dr. Gunter Thielen, Vorstandsvorsitzender der Bertels­mann Stiftung. „Auch die Situation in der gesamten Region muss berücksichtigt werden. Bei der bevorstehenden Afghanistan-Konferenz in London sollten alle Fakten und Zahlen auf den Tisch. Die Daten, die der BTI dafür bietet, sind allerdings bislang wenig ermutigend.“

Wie das detaillierte BTI-Ländergutachten für Afghanistan ausführt, konnten sich die nach dem Sturz der Talibanregierung eingeführten demokratischen Institutionen in den letzten Jahren nicht festigen. Sie wurden durch die zweifelhafte Qualität der diesjährigen Präsidentschaftswahlen noch weiter geschwächt. Die Unfähigkeit zur Sicherung der öffentlichen Ordnung, schlechte Regie­rungsführung und Korruption führen zu einer zunehmenden Frustration in der Bevölkerung und verringern das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit des Staates. Mittlerweile werden die Taliban vor dem Hintergrund dieses Regierungsversagens von Teilen der Bevölkerung als Befreier gegen Be­satzungsmächte angesehen. Hier macht sich besonders empfindlich bemerkbar, dass funktionsfä­hige Vermittlungsmechanismen zwischen Gesellschaft und Politik fehlen, denn Parteien und zivil­gesellschaftliche Organisationen sind schwach.

Nach Jahrzehnten von Krieg, militärischer Intervention und Bürgerkrieg bleibt auch die afghanische Wirtschaft stark unterentwickelt. Armut und Not sind für einen großen Teil der Bevölkerung noch immer alltäglich. Ungeachtet der enormen ausländischen Hilfszahlungen leidet der Staat weiterhin unter drastischer Ressourcenarmut. Weiterhin wird ein Großteil der Wirtschaftsleistung im so ge­nannten informellen Sektor erbracht und trägt somit nichts zum staatlichen Steueraufkommen bei. Dagegen stammen rund 90 Prozent des weltweit produzierten Heroins aus Afghanistan. Niedrige Lohn- und Qualifizierungsniveaus befördern die Korruption auf allen Ebenen von Politik und Ver­waltung. Bestehende Gesetze gegen Amtsmissbrauch und Vorteilsnahme sowie die Einrichtung einer Kommission zur Korruptionsbekämpfung sind bislang praktisch bedeutungslos.

Ein düsteres Bild zeigt auch ein Blick des Bertelsmann Transformation Index auf die Situation in die Nachbarländer Afghanistans. Dabei wird deutlich, dass der Trend in Afghanistan als regionales Phänomen gesehen werden muss. Für die ohnehin fragile Region verzeichnet der Index in den vergangenen Jahren weitere Rückschritte. So wurden auch die unmittelbar angrenzenden zentral­asiatischen Staaten sehr schlecht bewertet: Turkmenistan auf Rang 115, Tadschikistan auf Platz 118 und Usbekistan auf Rang 120. Der benachbarte Iran erreichte im Index gerade einmal Rang 111 und auch Pakistan trotz einigen Verbesserungen lediglich Rang 106. In allen diesen Staaten haben sich die Menschenrechtslage sowie die Möglichkeiten der Bevölkerung zur politischen und wirtschaftlichen Teilhabe weiter verschlechtert. Eine klanbasierte Regierungsführung, grassierende Korruption und ethnische Zerklüftung sorgen für wachsende Unzufriedenheit innerhalb der Bevöl­kerung, der die politischen Eliten mit zunehmenden Repressionen begegnen. Die gesamte Region bleibt in der Bewertung des Bertelsmann Transformation Index ein Herd der Instabilität, der weit über Afghanistan hinausgeht.

Über den Transformation Index:

Der Transformation Index der Bertelsmann Stiftung analysiert und bewertet die Qualität von De­mokratie, Marktwirtschaft und politischem Management in 128 Entwicklungs- und Transformati­onsländern. Gemessen werden Erfolge und Rückschritte auf dem Weg zu rechtsstaatlicher Demo­kratie und sozialpolitisch flankierter Marktwirtschaft. Detaillierte Ländergutachten sind die Grund­lage für die Bewertung des Entwicklungsstands und der Problemlagen sowie der Fähigkeit politi­scher Akteure, Reformen konsequent und zielsicher umzusetzen. Der Transformation Index der Bertelsmann Stiftung ist damit der erste international vergleichende Index, der die Qualität von Governance mit selbst erhobenen Daten misst und eine umfassende Analyse von politischen Gestaltungsleistungen in Transformationsprozessen bietet.

Weiterführende Informationen finden Sie in der Spalte rechts neben diesem Text.