„Erlesenes“ ist ein zweiwöchentlicher Newsletter von reframe[Tech] - Algorithmen fürs Gemeinwohl und bietet eine kuratierte Auswahl an wissenschaftlichen Studien, journalistischen Artikeln und Debattenbeiträgen sowie Fundstücken mit Augenzwinkern aus sozialen Medien zum Themenkomplex Algorithmen und KI. Mit „Erlesenes“ wollen wir den Diskurs rund um algorithmische Entscheidungssysteme und ihre Chancen sowie Risiken für das Gemeinwohl einordnen, wir möchten den Blick über den Tellerrand wagen und Perspektiven fernab des dominierenden Diskurses aufgreifen. So wollen wir die Abonnent:innen in dem sich rasch verändernden Themenfeld up-to-date halten. Jede Ausgabe finden Sie auch auf unserem Blog. Hier geht's zum Blog!

 

 

Liebe Leser:innen,  

„Wenn eine Kerze für jedes KI-Versprechen stünde, wäre der Adventskranz schnell voll“, mag man sich bei manchen Aussagen aus der Tech-Welt denken. Gleichzeitig zeigen gute Beispiele, wie KI-gestützte Diagnosen seltener Krankheiten, dass sich jenseits der großen Worte auch echte Fortschritte abzeichnen. Die letzte Erlesenes-Ausgabe für dieses Jahr ist jedenfalls praller gefüllt als jeder Nikolaus-Sack. Okay, okay, genug der Weihnachtsanspielungen. Was steckt also drin:

Während es in einem Artikel um den Unterschied zwischen menschlichem Denken und einer möglichen Superintelligenz geht, zeigt ein anderer, wie Menschen den KI-Einsatz in ihrem Alltag erleben. Auf das „Digitale Omnibus-Paket“ zurückkommend, greifen wir eine Perspektive auf, die sowohl die Kommissions- als auch zivilgesellschaftliche Positionen zur geplanten Lockerung bestehender Regulierungen genauer unter die Lupe nimmt. Und: Sprache ist Macht, das wissen wir. Doch setzen wir dieses Wissen bei Nutzung des Begriffs „Globaler Süden“ wirklich um?

Außerdem: Steigen mithilfe von KI die Chancen, die Ursachen seltener Erkrankungen im Erbgut zu finden?

Wir wünschen Ihnen, liebe Abonnent:innen, neben einer guten Lektüre eine erholsame Weihnachtszeit und einen guten Start ins neue Jahr. Wir freuen uns schon jetzt, auch 2026 wieder Erlesenes und Verlesenes zugleich zu liefern.

Bleiben Sie uns gewogen.

Elena und Teresa

 

 

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Die Meinungen in den Beiträgen spiegeln nicht zwangsläufig die Positionen der Bertelsmann Stiftung wider. Wir hoffen jedoch, dass sie zum Nachdenken anregen und zum Diskurs beitragen. Wir freuen uns immer über Feedback – der Newsletter lebt auch von Ihrer Rückmeldung und Ihrem Input. Melden Sie sich per E-Mail an teresa.staiger@bertelsmann-stiftung.de oder bei LinkedIn unter @reframe[Tech] – Algorithmen fürs Gemeinwohl.

Spurensuche im Erbgut

New Artificial Intelligence Model Could Speed Rare Disease Diagnosis, Harvard Medical School, 24.11.2025
Oft bleiben seltene genetische Erkrankungen lange unerkannt, da winzige Veränderungen im Erbgut nur schwer zu finden sind. Wissenschaftler:innen der Harvard Medical School haben deshalb „popEVE“ entwickelt, ein KI-Modell, das für jede Variante im Genom einschätzt, in welchem Ausmaß sie die Funktion eines Proteins verändern und ob sie eine Krankheit auslösen könnte. Dafür werden sowohl evolutionäre Informationen als auch Daten über natürliche genetische Unterschiede innerhalb der Bevölkerung genutzt. In einer Untersuchung von rund 30.000 bisher undiagnostizierten Patient:innen mit schweren Entwicklungsstörungen half „popEVE” in etwa einem Drittel der Fälle, eine wahrscheinliche Ursache zu finden. Erste Tests zeigen zudem, dass Menschen mit selten vertretenen genetischen Hintergründen nicht benachteiligt werden. Obwohl das Modell bereits vereinzelt eingesetzt wird, muss noch geprüft werden, wie zuverlässig und sicher es ist, bevor es flächendeckend eingesetzt werden kann. Sollte sich dies bestätigen, könnte das Modell dabei helfen, Diagnosen schneller zu stellen und neue biologische Zusammenhänge sichtbar zu machen, ohne die Bedürfnisse der Betroffenen aus den Augen zu verlieren.
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Ein Label, das alles schluckt

What the European Commission and Civil Society Both Get Wrong on the Digital Omnibus, Tech Policy, 26.11.2025
Kann gute Regulierung durch schlechte Umsetzung ihre eigene Glaubwürdigkeit untergraben? Mark Scott von „Tech Policy Press“, einer gemeinnützigen Medienorganisation, kritisiert im Diskurs um den „Digital Omnibus“ (Erlesenes berichtete) sowohl die Europäische Kommission als auch Teile der Zivilgesellschaft. Die von Henna Virkkunen geleitete Kommission schlägt nämlich weitreichende Änderungen vor, die Unternehmen einen leichteren Zugang zu personenbezogenen Daten ermöglichen und bestehende Datenschutzstandards sowie KI-Vorschriften anpassen sollen, um – so die Rechtfertigung – Europas Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Rechtsexpert:innen lehnen dies jedoch ab. Scott schreibt, dass beide Seiten zentrale Punkte in ihrer jeweiligen Argumentation verfehlen. Die Kommission gehe nicht auf die eigentlichen Ursachen für Europas Wachstumsschwäche ein, während die Kritiker:innen gleichzeitig ignorierten, dass Teile des bestehenden Regelwerks in der Praxis enttäuscht haben. So leidet die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO)fast zehn Jahre nach ihrem Inkrafttreten unter schwacher Durchsetzung und komplexen Regeln, während große Plattformen sie strategisch zu ihrem Vorteil nutzen. Bei der KI-Verordnung deute sich Ähnliches an: Die Forderung, das bestehende Paket grundsätzlich unangetastet zu lassen, blendet laut Scott aus, wie begrenzt deren Wirkung bisher tatsächlich war.
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Zwischen Anspruch und Realität

Moving Beyond the Term „Global South” in AI Ethics and Policy, HAI, 19.11.2025
In unserem Newsletter verwenden wir regelmäßig den Begriff „Globaler Süden“. Doch wie präzise ist diese Bezeichnung eigentlich, besonders im Bereich der KI-Ethik und -Regulatorik? Ein neuer Forschungsbericht untersucht genau diese Frage und kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff oft mehr schadet als hilft. Dafür befragten die Wissenschaftler:innen 20 Expert:innen, die sich mit Ethik und globalen Machtstrukturen im Kontext von KI beschäftigen. Demnach impliziere der Begriff häufig schädliche Stereotype von Homogenität, Unterentwicklung und technologischer Rückständigkeit und mache europäische oder amerikanische Regulierungsansätze dadurch zum Goldstandard. Dabei umfasse die Bezeichnung über 70 Länder mit völlig unterschiedlichen Kulturen, Wirtschaftssystemen und politischen Realitäten. Trotz dieser Kritik fühlen sich viele Forscher:innen unter Druck gesetzt, den Begriff zu verwenden. Der Grund dafür liegt in den Forschungs- und Finanzierungsstrukturen, da wer Sichtbarkeit und Förderung möchte, sich an die etablierte Sprache anpassen müsse. Die Autor:innen schlagen jedoch keinen neuen Oberbegriff vor: Alternative Bezeichnungen wie „globale Mehrheit” oder „Mehrheitswelt” würden das Problem lediglich wiederholen. Ihre Empfehlung lautet daher: „Seid konkret.” Sie empfehlen, Länder, Regionen oder Gemeinschaften direkt zu benennen, statt eine Sprache zu verwenden, die unterschiedliche Geschichten und Institutionen in eine Kategorie drängt. Das gilt sowohl für den im Bericht angesprochenen Kontext der KI-Policy als auch für andere Themen.
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Wenn KI an den Menschen vorbeigeht

AI in the street: Lessons from everyday encounters with AI innovation, Careful Industries, November 2025
Der Bericht des Projekts „AI in the Street“ liefert uns Einblicke, wie Menschen den zunehmenden Einsatz KI-gestützter Technologien in ihrem Alltag erleben. Im Sommer 2024 arbeitete das Projektteam mit Partner:innen in vier Städten im Vereinigten Königreich sowie in einer Stadt in Australien zusammen. Es richtete Beobachtungsstellen ein, die mit kreativen Methoden dazu einluden, die Auswirkungen von KI in der unmittelbaren Umgebung sichtbar zu machen. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass sich viele städtische Gemeinschaften nicht als Nutznießer von KI-Innovationen im öffentlichen Raum sehen und beschreibt eine Lücke zwischen Technologiepolitik und den alltäglichen Anliegen der Menschen. Das wird beispielsweise dann deutlich, wenn man Rechenzentren als Teil der KI-Infrastruktur betrachtet. Sie beanspruchen viel Raum, Energie und öffentliche Ressourcen, was spürbare Folgen für die umliegenden Gemeinden hat. Darüber hinaus werde zu wenig mit den Menschen vor Ort gesprochen und gemeinsam nach Lösungen gesucht, wodurch sich das Risiko erhöhe, dass sich Menschen ausgeschlossen fühlen und ihr Vertrauen in staatliche Institutionen sinkt. Die Autor:innen empfehlen unter anderem mehr Transparenz sowie dauerhafte Beobachtungsstellen, die dabei helfen sollen, die Reaktionen der Bevölkerung auf neue KI-Anwendungen besser zu verstehen.
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Leere Versprechen?

Large language mistake, The Verge, 25.11.2025
Die CEOs großer Tech-Konzerne überbieten sich mit hehren Versprechen. Mark Zuckerberg von Meta spricht von einer nahenden Superintelligenz, Dario Amodei von Anthropic erwartet bis 2026 KI-Systeme mit höherer Intelligenz als Nobelpreisträger:innen und Sam Altman von OpenAI erklärt, man wisse inzwischen, wie sich eine künstliche allgemeine Intelligenz entwickeln lasse. Doch sollten wir diesen Versprechen glauben? Benjamin Riley, Autor des Artikels, widerspricht und führt an, dass die neurowissenschaftliche Forschung eine andere Geschichte erzähle. KI-Systeme wie ChatGPT, Claude oder Gemini beruhen auf großen Sprachmodellen (LLMs), die große Mengen an Sprachdaten verarbeiten, darin Muster erkennen und Vorhersagen über passende Ausgaben generieren. Sprache und Denken sind jedoch wissenschaftlich klar voneinander zu trennen. Zwar verwenden Menschen Sprache, um Gedanken zu vermitteln, doch das Denken findet zu großen Teilen ohne Sprache statt. Menschen, die ihre Sprachfähigkeit verlieren, können demnach weiterhin logisch denken, mathematische Aufgaben lösen oder nonverbale Hinweise verstehen. Selbst wenn Systeme mehrere kognitive Bereiche abdecken, fehlt ihnen die Fähigkeit, mit bestehenden Denkweisen unzufrieden zu sein und kreative Sprünge zu machen. Wahrscheinlicher ist also ein System, das bestehendes Wissen neu zusammensetzt, aber in den Begriffen gefangen bleibt, die wir ihm durch unsere Daten beigebracht haben.
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Uchechukwu Ajuzieogu

Uchechukwu Ajuzieogu ist ein Experte für KI, Wirtschaft und Politik mit Schwerpunkt auf aufstrebenden Märkten und Entwicklungen in Afrika.

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