Liz Mohn mit Arun Poorie

Gesellschaftlicher Wandel in Transformationsprozessen. Die Erfahrung in Indien und anderen Ländern

Indien hat in den vergangenen 25 Jahren seit Beginn der wirtschaftlichen Liberalisierung gewaltige Transformationsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft erlebt, die das Land mitten in die globalisierte Welt katapultiert haben.  Die Globalisierung hat zu einem dramatischen Reichtum einiger weniger geführt, zugleich aber viele Menschen wirtschaftlich weiter marginalisiert. Die Folge sind  zunehmende Spannungen und Konflikte, die eine Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt und die politische Stabilität darstellen.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen führte die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit der India Today Group, einem der größten indischen Medienunternehmen, am 23. September 2016 in New Delhi eine hochrangig besetzte Diskussionsrunde zum Thema „Social Cohesion in Transformation. The Experience of India and Beyond” durch. An der Konferenz nahmen 30 Vordenker aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft teil, darunter Aroon Purie, Chairman und Editor-in-Chief der India Today Group und der ehemalige stellvertretende UN-Generalsekretär Shashi Tharoor. Unter den Teilnehmern waren außerdem Experten und Akademiker wie Ashis Nandy, Senior Honorary Fellow, Centre for the Study of Developing Societies (CSDS); Arun Maira, ehemaliges Mitglied der Planungskommission Indiens; Paul Van Gelder, Managing Director, Sebastian Indian Social Projects (SISP) – sowie der Schriftsteller Gurcharan Das.  

Liz Mohn, stellvertretende Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung und Aroon Purie eröffneten die Veranstaltung. In ihrem Grußwort stellte Liz Mohn die grundlegende Frage: Wie kann es modernen Gesellschaften gelingen, in Zeiten von rasanten Veränderungen und immer mehr Krisen das notwendige Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt sicherzustellen? Sie betonte, dass diese Frage nicht nur für Europa, sondern auch für Indien von entscheidender Bedeutung sei. Aroon Purie identifizierte in seiner Eröffnungsrede fünf grundlegende Transformationsprozesse, die die  indische Gesellschaft prägen: die Mobilisierung des Kastenwesens, die Liberalisierung der Wirtschaft, den Aufstieg des Hindu-Nationalismus (Hindutva), die Zunahme des Regionalismus und den wachsenden Einfluss von Frauen in allen Lebensbereichen.

Soziale Transformationsprozesse in Indien und Asien

Die erste Session, moderiert von Aart De Geus, Vorsitzender der Bertelsmann Stiftung, griff die einleitenden Bemerkungen Aroon Puries auf. Gurcharan Das, Autor von "India Unbound", betonte die Bedeutung der wirtschaftlichen Liberalisierung, weil diese eine befreiende Wirkung für alle Bereiche der indischen Gesellschaft gehabt habe. Paul Van Gelder, der seit 20 Jahren unter den Ärmsten der indischen Gesellschaft lebt und arbeitet, erinnerte die Teilnehmer daran, dass trotz der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung noch fast 20-25 Prozent der indischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Eine Zukunftsperspektive für diese Menschen zu finden, bleibe eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen.

Grundsätzlich bestand Konsens darüber, dass Indien rasant wächst, soziale Strukturen sich grundlegend wandeln, traditionelle Formen der Abhängigkeit in einem gewissen Sinne überflüssig werden und immer mehr Menschen die alten Strukturen und Autoritäten in Frage stellen. Auf der anderen Seite gibt es auch neue Formen der Armut und Verwundbarkeit, die große Teile der Bevölkerung betreffen und häufig durch Kastenpolitik und den Aufstieg des Hindu-Nationalismus verschärft werden. Darüber hinaus gab es auch Kritik, dass das Bild der indischen Mittelschicht zur hegemonialen Vorstellung des neuen Indiens geworden sei. Wenn die Leute über Indien sprechen, würde sie nur über das städtische, urbane Indien reden, über IT-Dienstleistungen, Einkaufszentren, Konsumverhalten, nicht aber über das ländliche Indien, wo immer noch mehr als 70 Prozent der Bevölkerung leben.

Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Indien

Die zweite Session, moderiert von Kaveree Bamzai, Editor (Special Project) bei India Today, konzentrierte sich auf die Auswirkungen der verschiedenen Transformationsprozesse auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Indien. Indien ist eine enorm vielfältige Gesellschaft. Wie Ashis Nandy argumentierte, sollte man Indien als das größte Versuchslabor der Welt betrachten, wo gesellschaftliche Vielfalt auf unterschiedliche Weise mit Transformationsprozessen und sozialem Zusammenhalt experimentiert. Ähnlich meinte Shashi Tharoor, dass trotz gezielter politischer Anstrengungen, die Vorstellung einer "Hindu-Mehrheit" im Land zu schaffen, Indien eine "Sammlung von Minderheiten" bleibe, in der sogar die dominanten Kasten und Sprachen nicht den Status Mehrheit genießen würden.

Insgesamt ist die Frage des sozialen Zusammenhalts im indischen Kontext wegen des Kastenwesens und der religiösen Vielfalt äußerst komplex. Obwohl das Konzept demokratischer Gleichheit in Indien theoretisch akzeptiert wird, bleibt Kaste eine Realität im Alltagsleben und stellt eine gewaltige Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt dar. Das gleiche gilt für die Politisierung der Religion durch die Anhänger der Hindutva. Vor diesem Hintergrund stieß auch das von der Bertelsmann Stiftung entwickelte Projekt „Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt in Asien“, dessen Ergebnisse Anfang nächsten Jahres veröffentlicht werden, auf großes Interesse. Durch diese Pionierstudie werden erstmals wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse für 22 asiatische Länder vorliegen.

Die Diskussion profitierte außerdem von dem Hintergrundpapier "Sozialer Zusammenhalt und Transformation in Indien“, das  Suhas Palshikar, Co-Direktor des Lokniti und ehemaliger Professor für Politik und öffentliche Verwaltung an der Savitribai Phule Pune University, im Vorfeld der Konferenz verfasst hatte. Das Papier kann hier heruntergeladen werden.