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Ein „Push" zur Identifikation mit Europa

Bürger:innen fangen an, sich als Europäer:innen zu fühlen und europäisch zu denken und Politiker:innen fangen an, Entscheidungen zu treffen, die näher an den Bedürfnissen der Menschen sind. Das geschieht, wenn Bürgerbeteiligung gut organisiert wird. Erfahrungen mit Bürgerpartizipation in der EU wurden auf der Arbeitskonferenz der Bertelsmann Stiftung und des Europäischen Ausschusses der Regionen am 27. Juni in Brüssel diskutiert. 

Ansprechpartner:innen

Foto Anna Renkamp
Anna Renkamp
Senior Project Manager
Foto Dominik Hierlemann
Dr. Dominik Hierlemann
Senior Advisor

Inhalt

Gemeinsam mit rund 70 geladenen Politiker:innen, Bürger:innen und Experten:innen aus lokalen und regionalen Regierungen sowie aus EU-Institutionen und -Gremien erarbeiteten wir Empfehlungen für die zukünftige Gestaltung der Bürgerpartizipation in Europa. Anknüpfend an das größte Demokratieexperiment der EU, die Konferenz zur Zukunft Europas, konzentrierte sich die Arbeitskonferenz auf die Frage, wie die Ansichten von Bürger:innen aus allen Teilen Europas besser in die europäische Politikgestaltung einbezogen werden können und wie Bürgerbeteiligung zu einer dauerhaften Realität werden kann. Folgende Fragen wurden erörtert:

  • Welche Lehren lassen sich aus der Konferenz zur Zukunft Europas für eine stärkere Bürgerbeteiligung und eine bessere Verbindung zwischen partizipativer und repräsentativer Demokratie ziehen?
  • Wie sollten wir lokale Bürgerversammlungen mit Debatten auf EU-Ebene verbinden?
  • Was brauchen die Regionen und Städte, um die Bürgerbeteiligung im EU-Kontext voranzubringen? Was kann der Europäische Ausschuss der Regionen zu diesem Prozess beitragen?

Bildergalerie

In der Eröffnungsdebatte sagte Christophe Rouillon, Bürgermeister von Coulaines, Frankreich, Vorsitzender der SPE-Fraktion im Europäischen Ausschuss der Regionen (AdR): "Die Konferenz zur Zukunft Europas hat eine klare Botschaft vermittelt: Wir müssen mehr Demokratie wagen! Dies bedeutet eine Stärkung sowohl der repräsentativen als auch der partizipativen Demokratie. Wir, die europäischen Städte und Regionen, sind am besten geeignet, die Bürger:innen auf ein stärkeres Mitspracherecht in der Sozial-, Umwelt- und Gesundheitspolitik vorzubereiten. Wir können auf unseren Erfahrungen mit der Bürgerbeteiligung aufbauen und auch Labore für demokratische Experimente sein. Wir sind bereit und motiviert, das europäische Demokratieprojekt auf eine neue Stufe zu heben!"
In drei parallelen Workshops diskutierten die Teilnehmenden im Word Café Format über die Vorteile der Bürgerbeteiligung auf verschiedenen Ebenen der Demokratie, über die Einbindung von Regionen und Städten in einen europäischen Beteiligungsprozess sowie über den Aufbau von Kapazitäten und die Vernetzung für die Bürgerbeteiligung. Hier sind die wichtigsten Empfehlungen aus den Workshops.

Ergebnisse der Workshops

WS 1: Vorteile der Bürgerbeteiligung auf verschiedenen Ebenen der Demokratie

- Die EU sollte nachvollziehbarer werden: Dies kann erreicht werden, indem die europäischen Prioritäten in politische Ziele und Pläne umgesetzt werden, die für die Bürger:innen auf lokaler Ebene klar und verständlich sind, indem der Zugang zu EU-Informationen erleichtert wird und indem Informationen über die EU und ihre politischen Prioritäten leicht zugänglich gemacht werden.

- Bekämpfung des Mangels an europäischer Identität durch den Brückenschlag zwischen EU-Politiker:innen und dem täglichen Leben der EU-Bürger:innen und durch den direkten Kontakt der Bürger:innen mit lokalen und europäischen Entscheidungsträgern.

- Gewährleistung von Inklusivität und Repräsentativität bei den Formaten der Bürgerbeteiligung: Organisation von Bürgerversammlungen mit zufällig ausgewählten Bürger:innen. Dies gibt normalen Bürger:innen die Möglichkeit, ihre Ansichten darzulegen. Die Vielfalt der Bürger:innen führt zu ausgewogenen Konsenslösungen, auch bei kontroversen Themen.

- Bereitstellung einer zentralen Online-Plattform für Partizipation und Transparenz; Abbau der Sprachbarriere und Erleichterung des Zugangs zu EU-Informationen.

WS 2: Wie können Regionen und Städte in einen europäischen partizipativen Prozess einbezogen werden?

- Die Städte und Regionen sollten eine aktive Rolle bei der Erläuterung des Mehrwerts der EU spielen, indem sie den Bürger:innen europäische Themen näher bringen, Bottom-up-Ansätze fördern, lokale Initiativen zu Themen von lokaler und europäischer Tragweite stärken und Schulungen zu EU-Themen und zu partizipativen Verfahren erhalten.

- Der AdR sollte ein Netz von Akteuren aufbauen, die an der Ausweitung der Bürgerbeteiligung arbeiten und Wissen über Erfahrungen und bewährte Verfahren verschiedener Beteiligungsformate sammeln.

- Interaktive Online-Formate sollten noch stärker genutzt werden, wenn es darum geht, Menschen miteinander in Kontakt zu bringen. Junge Menschen sollten mobilisiert werden.

- Gut organisierte und strukturierte Bürgerbeteiligung auf regionaler und lokaler Ebene ist ein guter Ansatz zum Aufbau und zur Stärkung der gemeinsamen europäischen Identität.

WS 3: Wie kann man Kompetenzen und Netzwerke zur Bürgerbeteiligung aufbauen?

- Die Rolle von Netzwerken besteht darin, Ideen auszutauschen, Regierungsebenen miteinander zu verbinden und bewährte Praktiken weiterzugeben. In den Netzwerken sollten sich sowohl Partizipationsexpert:innen und -praktiker:innen als auch Verwaltungen und Bürger:innen engagieren. Netzwerke sollten einen sicheren Raum für den Austausch bieten und auch die Möglichkeit beinhalten, über Misserfolge zu sprechen.

- Der Aufbau von Wissen und Kompetenzen kann durch Schulungen und Anleitungen zu Verfahren und Qualitätsstandards von Bürgerbeteiligung erfolgen. Wichtig ist dabei die Weitergabe positiver Erfahrungen und Erfolgsfaktoren. Mentoring und Coaching sollte stattfinden, um sich über bewährte Verfahren auszutauschen und länderübergreifende Lernmöglichkeiten zu schaffen. Eine Vernetzung mit der breiten Öffentlichkeit sowie Zivilgesellschaft und Medien sind hilfreich. Auch Politiker:innen sollten einbezogen werden.

Fazit und Ausblick nach der Arbeitskonferenz

Vasco Alves Cordeiro, Erster Vizepräsident des Europäischen Ausschusses der Regionen, schloss die Arbeitskonferenz. Der Vizepräsident betonte, dass uns die Konferenz zur Zukunft Europas gezeigt habe, dass wir aus der "Legitimitätsfalle" herauskommen müssen, d. h. dass wir aufhören müssen zu denken, dass repräsentative und partizipative Demokratie von Natur aus widersprüchlich sind und nicht nebeneinander existieren können. Gewählte Vertreter:innen und Bürger:innen, die sich in Partizipationsformaten engagieren, stehen nicht im Gegensatz zueinander, sondern arbeiten mit unterschiedlichen Mitteln auf dieselben Ziele hin. Um jedoch die Bürgerbeteiligung voranzubringen und ihre Akzeptanz zu erhöhen, sollten sich alle Ebenen der Demokratie derzeit drei großen Herausforderungen stellen: Es müssen die richtigen Bedingungen geschaffen werden, um die Menschen zur Beteiligung zu motivieren; den Bürger:innen sollte von Beginn des Prozesses an klar sein, wieviel Gestaltungsspielraum sie haben; die Politiker:innen müssen Rechenschaft darüber ablegen, was mit den Empfehlungen der Bürger:innen geschehen soll. Die Bürger:innen müssen eine klare Vorstellung davon bekommen, was mit ihren Vorschlägen und Empfehlungen geschehen wird. Es ist die Hauptaufgabe der Politiker:innen, dies klar zu vermitteln.

Vasco Alves Cordeiro schloss mit der Feststellung, dass die lokalen und regionalen Gebietskörperschaften bereits eine interessante Bilanz bei der Bürgerbeteiligung vorweisen können und auch in Zukunft eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung dieser Herausforderungen spielen werden.

Hintergründe

"Vom Lokalen zum Europäischen": Ein Projekt des AdR und der Bertelsmann Stiftung

Zwischen April 2021 und Februar 2022 wurde das Projekt "From local to European" vom AdR und der Bertelsmann Stiftung durchgeführt – gemeinsam mit 23 Kooperationspartnerschaften aus 67 europäischen Städten und Regionen. Letztere führten Bürgerdialoge mit rund 200 Politiker:innen und 2.000 Bürger:innen durch, die mit mehr als 400 konkreten Vorschlägen zur Konferenz zur Zukunft Europas beitrugen. Die fünf wichtigsten Ergebnisse des Projekts sind:

  1. Das Projekt führte zu qualitativ hochwertigen Bürgerdialogen. Über 90 % der Bürger:innen und über 90 % der Organisatoren bewerteten die Bürgerdialoge als sehr gut oder gut. Alle Initiatoren gaben an, dass die Unterstützung durch das Projekt ihre eigenen Bürgerdialoge verbessert habe.
  2. Das Know-how für eine gute Bürgerbeteiligung konnte fest etabliert werden. Alle Initiatoren bewerteten die Qualitätsprinzipien inklusiver, deliberativer und effektiver Bürgerbeteiligung als nützlich, unabhängig von ihren Vorkenntnissen über Bürgerbeteiligung. Die Qualitätsprinzipien wurden in der Praxis angewandt. Lediglich die Zufallsauswahl als wenig bekanntes Instrument hatte einige Umsetzungsprobleme.
  3. Die partizipative Demokratie in den Städten und Regionen ist nachhaltig gestärkt worden. Alle Projektpartner erklärten, dass sie die Qualitätsprinzipien in Zukunft wieder anwenden werden. Darüber hinaus wurden alle Veranstaltungen von insgesamt etwa 200 Politikern:innen unterstützt, die mit den Bürger:innen ihre Vorschläge diskutierten und versprachen, konkrete Maßnahmen zu ergreifen.
  4. Die Bürger:innen wollen stärker in europäische Themen einbezogen werden. Die Auswertung der Bürgerempfehlungen und die ca. 400 Vorschläge der Bürger:innen zeigen deutlich, dass die Europäer:innen mehr Bürgerbeteiligung auf europäischer Ebene wollen.

In der Vielfalt geeint: Die Vorschläge der europäischen Bürger:innen sind ähnlich. Die rund 400 Vorschläge zeigen: Die europäischen Bürger:innen wollen mehr von Europa und einheitlichere Lösungen auf der EU-Ebene. Darüber hinaus zeigt sich, dass die Bürger:innen nicht nur häufig über die gleichen Themen diskutieren, sondern auch oft zu ähnlichen Vorschlägen für die Zukunft Europas kommen, obwohl diese unterschiedliche Länder, Regionen und Städte betreffen.

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