Blick aufs Podium beim fünften Forum Bellevue: Ute Frevert, Cornelia Koppetsch, Andreas Hollstein und Bernhard Pörksen diskutieren mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Steinmeier: "Wir brauchen mehr demokratischen Patriotismus"

Politik ist nicht nur Kopfsache, sondern auch Herzensangelegenheit und manchmal sogar durch "Bauchentscheidungen" geprägt. Doch Emotionalisierung oder eine Politik der Dauerempörung können Risse und Ressentiments befördern. Wie sich gesellschaftliche Spaltungen überwinden lassen und welche Rolle Gefühle in der Politik spielen, darüber diskutierte Bundespräsident Steinmeier auf dem fünften "Forum Bellevue" mit Wissenschaftlern und Politikern.

Foto Jörg Habich
Jörg Habich
Foto Barbara von Würzen
Barbara von Würzen

"Einen kühlen Kopf bewahren und trotzdem nicht unterkühlt, sondern mit Leidenschaft für die Sache der Demokratie diskutieren", so formulierte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu Beginn des fünften "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" eine wesentliche Herausforderung für die bevorstehende Diskussion. Der Bundespräsident hatte eingeladen, um eine "Entschlüsselung der Ressentiments" vorzunehmen, die unseren Zusammenhalt gefährden. Mit "Rissen und Ressentiments", so das Thema der Veranstaltung, war daher kurz nach dem Feiertag zur Deutschen Einheit ein aktuelles und grundlegendes Thema gesetzt, das mit den Diskutanten und Gästen intensiv debattiert wurde.

Gemeinsam mit Uta Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Cornelia Koppetsch, Professorin für Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung an der TU Darmstadt, dem Bürgermeister aus Altena, Andreas Hollstein und dem Medienwissenschaftler von der Universität Tübingen, Bernhard Pörksen, ging Steinmeier der Frage nach, wie Politik und Gesellschaft mit Zorn und Emotionen umgehen und ideologische Mauern überwinden können.

Wie umgehen mit dem kommunikativen Klimawandel?

Gleich zu Beginn formulierte Bundespräsident Steinmeier einen Appell, der Bitte und Mahnung zu gleich war: "Lassen Sie uns die Spirale aus inszenierten Tabubrüchen und moralischer Zurechtweisung durchbrechen, um einen Raum des Nachdenkens zu schaffen". Dass dieser Raum für die den nächsten zwei Stunden kein Ort des Lamentierens und Jammerns werden sollte, machte der Bundespräsident ebenso deutlich: "Die liberale Demokratie ist ein Sehnsuchtsort für Menschen in aller Welt. Gerade diese positive Emotion gehört für mich zu einem Gespräch über Gefühle in der Politik dazu. Ich wünsche mir jedenfalls mehr demokratischen Patriotismus in diesen Zeiten", so Frank-Walter Steinmeier.

Doch wie lassen sich Menschen in einer Zeit des "kommunikativen Klimawandels", der Emotionen eher aufheizt als abkühlt, mit unterschiedlichen Meinungen wieder an einen Tisch bringen? Und wie können wir Menschen für die Demokratie begeistern, die sich zunehmend von ihr abwenden?

Dass Emotionen und Politik nicht erst seit diesem Jahr Hand in Hand gehen, und auch der Vorwurf einer bisher nicht gekannten Enthemmung der Sprache mit Vorsicht zu genießen sei, erläuterte Ute Frevert vom Max-Planck-Institut: Bereits der griechische Philosoph Aristoteles habe beschrieben, dass jede Form der Politik Emotionen brauche und auch "in der Weimarer Republik war die politische Stimmung deutlich aufgeheizter als heutzutage", so Frevert.

Doch sie kritisierte die zunehmenden Spaltungsversuche in den aktuellen politischen Debatten. Auch die Umwelt- und Friedensbewegungen hätten mit der Kraft der Emotionen gegen Atomkraftwerke oder Aufrüstung protestiert. "Doch im Unterschied zu heute ging es damals weniger um eine Spaltung der Gesellschaft, als um eine gemeinsame Verantwortung", so Frevert. 

Brauchen wir neue Visionen für die Demokratie?

"Doch wie gehen die Ängste um Verluste und der Zorn auf Eliten mit der stabilen Lage von Wirtschaft und Rechtstaat einher", wollte Frank-Walter Steinmeier wissen. Warum sind populistische Strömungen gerade in europäischen Staaten wie den Niederlanden, Schweden oder auch Dänemark mit ihren ausgebauten Sozialsystemen und absolutem Reichtum so erfolgreich?

Cornelia Koppetsch sprach in diesem Zusammenhang von einem "Aufstand der Etablierten". Diese seien weniger von materiellen Einbußen als von Ängsten um schwindende Privilegien angetrieben. Andreas Hollstein, der als Bürgermeister der westfälischen Stadt Altena direkt mit den Emotionen der Bürger konfrontiert ist und 2017 sogar selbst Opfer einer Messerattacke eines aufgebrachten Bürgers wurde, appellierte, dialogbereit und verständnisvoll zu bleiben: "Die Herausforderungen der Globalisierung spüren wir direkt auf dem Land, hier muss die Politik ihre Hausaufgaben erledigen, denn viele Menschen fühlen sich vernachlässigt", so Hollstein.

Um die Bürger wieder für Demokratie und gesellschaftliche Verantwortung zu begeistern, brauche es auch positiv besetzte Visionen, mahnte der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. Eine Ursache in der zunehmenden Emotionalisierung gesellschaftlicher Debatten sah er in einer "neuen Gereiztheit", ausgelöst durch zu viel Nähe unterschiedlicher Lager in den sozialen Medien. "Je mehr Information verfügbar sind, desto stärker wachsen die Möglichkeiten der Desinformation", so Pörksen. Er forderte daher "neue Visionen und eine Gegenerzählung, die nicht nur aus Überschriften und rhetorischen Hüllen bestehen dürfen", um populistischen Parolen etwas entgegenzusetzen.

Steinmeier: Freiwilliges Engagement für die Gesellschaft stärker wahrnehmen

Die Voraussetzungen dafür seien grundsätzlich gegeben, in diesem Punkt war sich das Podium einig. "Es gibt in unserem Land tausende Menschen, die täglich mit ihrem freiwilligen Engagement dafür sorgen, dass das Leben auf dem Land, in Dörfern und Kleinstädten funktioniert", so Steinmeier, der zum Abschluss an die Runde appellierte, diese Leistungen auch zu würdigen und wahrzunehmen. "Diese Menschen leisten mehr, als uns allen bewusst ist. Auch darüber müssen wir mehr reden in unserem Land", forderte der Bundespräsident.

Das "Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie" ist eine Veranstaltungsreihe auf Initiative des Bundespräsidenten in Zusammenarbeit mit uns. Für das Forum Bellevue diskutiert Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier regelmäßig mit Gästen aus Wissenschaft, Politik, Kultur, Wirtschaft und Zivilgesellschaft über die Herausforderungen unserer Demokratie. Das Forum soll Raum für kontroverse Fragen und neue Perspektiven bieten. Das offene Gespräch über die Herausforderungen und Erfolgsrezepte der liberalen Demokratie soll im Zentrum der Diskussionen stehen.