Porträtfoto von Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, und Professor Klaus Schwab.

Der Welt dienen

Ein Unternehmer ist nicht nur Aktionären und Kunden verpflichtet, sondern allen, die sein Handeln berührt. – Bereits in den Siebzigerjahren entwickelte Prof. Klaus Schwab seinen Multi-Stakeholder-Ansatz. Ein Besuch beim diesjährigen Reinhard-Mohn-Preisträger im World Economic Forum.

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Text von Georg Dahm für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 2/2016.

Vom Genfer See aus ist das Anwesen nicht zu sehen, dieser lange, schlanke Gebäuderiegel aus Glas und gedecktem Stein. Eine Auflage der Behörden, nichts soll das Uferpanorama stören hier in der Genfer Randgemeinde Cologny. Die architektonische Zurückhaltung passt gut zu der Institution, die hier ihren Sitz hat – und zu dem Mann, der sie vor 45 Jahren gegründet hat und gerade gemessenen Schritts den Serpentinenpfad hochgeht auf dem Weg zur Arbeit. "Wir wollen keine arrogante Identität haben", sagt Prof. Dr. Dr. Klaus Schwab. "Wir dienen. Das ist eine der wichtigsten Dimensionen des World Economic Forums."

World Economic Forum – viele verbinden damit nur das jährliche Gipfeltreffen in Davos, wenn der Schweizer Kurort für fünf Tage zum Treffpunkt der Mächtigen wird. "Den ganzen Celebrity-Rummel mag ich nicht", sagt Schwab. "Wenn wir jemanden einladen aus der Hollywood-Welt, dann, weil die Person sich stark engagiert in Bereichen wie Wasser oder Klimawandel."

Historische Höhepunkte in Davos

2.500 Teilnehmer kommen jedes Jahr, viel mehr wären gerne dabei, aber Schwab und sein Team legen Wert darauf, dass Davos das bleibt, was es sein soll: eine Plattform für einen Austausch, der die Welt voranbringt. Und der findet eben nicht nur auf den Podien statt, sondern auch in den vielen informellen Gesprächen zwischen Entscheidern und Vordenkern, Wissenschaftlern und Staatschefs, Aktivisten und Konzernlenkern. Und zwischen Kontrahenten, die das World Economic Forum als glaubwürdigen Vermittler und Davos als neutralen Boden akzeptieren. Auf dem Gipfel legten die Türkei und Griechenland 1988 ihre Spannungen bei, zeigte sich Südafrikas Präsident Frederik Willem de Klerk 1992 mit Nelson Mandela, reichten sich Shimon Peres und Jassir Arafat 1994 spontan die Hand.

Historische Höhepunkte, die den Ruf des Forums prägen und das Forum zu einer Marke machen, die Türen öffnet. Und doch wird Davos im Jahresbericht nur mit einem Absatz abgehandelt – die eigentliche Arbeit des Forums findet an den restlichen 360 Tagen des Jahres statt.

Zu Besuch im Bienenstock

Gut 600 Mitarbeiter hat das Forum, die meisten davon in diesem Think-Tank am See. Wer verstehen will, was hier passiert, tut am besten das, was auch Gründer Klaus Schwab gerne macht: Er macht sich auf den langen Weg durch die hellen Flure und Großraumbüros, die offenen Konferenzflächen und Kantinenbereiche, in denen es brummt wie in einem Bienenstock. Ein sehr junger, sehr weiblicher, sehr internationaler Bienenstock: Der Frauenanteil liegt je nach Organisationsebene bei 40 bis 60 Prozent, Tendenz steigend, und jeder Kantinentisch sieht aus wie eine kleine UN-Vollversammlung, bei der sich die alten Würdenträger durch ihre besten Nachwuchskräfte vertreten lassen.

Durch diesen Bienenstock bewegt sich Schwab, wenn er nicht gerade in Terminen oder auf einer seiner vielen Reisen ist. Bedächtig, freundlich, hier nachfragen, da scherzen, dort anregen. Vom Afrika-Team kurz rüber zum Asien-Team. Auf dem Flur ein kurzes Gespräch mit einem gastierenden Yale-Professor für Bio-Ethik. Und auf der Terrasse stehen gerade zwei Kollegen aus dem Finanzteam, frisch zurück aus New York, wie war eure Konferenz da über die Zukunft der Familienunternehmen, gut?, schön, schickt mir doch bitte kurz die Teilnehmerliste für mein nächstes Meeting in 30 Minuten. Klar, geht sofort los. "Ich gebe strategische Anstöße", sagt Schwab.

Jung, international und mit einem hohen Frauenanteil: Die rund 600 Mitarbeiter des Forums arbeiten an innovativen und internationalen Projekten. (Foto: Sebastian Pfütze)

"Wir wollen der Klebstoff der Weltgemeinschaft sein"

Analysieren, zusammenbringen, anstoßen: Das beschreibt auch die Arbeit des ganzen Think-Tanks. Das Forum ist im Wesentlichen ein großer Netzwerker, das muss man wissen, bevor man sich mit seiner Arbeit beschäftigt, weil einem sonst schwindelig wird bei der Masse von Konferenzen, Projekten, Studien, Arbeitsgruppen. Das Forum arbeitet an Entwicklungsstrategien für alle Weltregionen, es beobachtet und begleitet die Transformation aller Wirtschaftssektoren, und über alle Branchen und Regionen hinweg befasst es sich mit Lösungen für die drängendsten Zukunftsthemen: von Freihandel über Geschlechterparität und Umweltschutz bis zu Ernährung und sozialer Sicherheit.

"Wir wollen der Klebstoff der Weltgemeinschaft sein", sagt Schwab, und wie das in der Praxis funktioniert, lässt sich sehr schön an den Tischen des Teams für Indien, Südasien und Sri Lanka beobachten. "Wir versuchen, Menschen mit den gleichen Interessen zusammenzubringen," sagt Dipti Kahar, die mit ihren Kollegen verschiedene Initiativen in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährung, Ausbildung und erneuerbare Energien begleitet. Das Team vernetzt Nichtregierungsorganisationen mit Unternehmern und Behörden, öffnet Türen, vermittelt Experten, organisiert Konferenzen.

Indien zählt zu den Regionen, in denen das Forum besonders stark engagiert ist. Über 90 indische Firmen sind Mitglieder der Organisation, damit steht das Schwellenland auf Platz zwei. Und es taucht in vielen Studien auf, die die Experten des Forums jedes Jahr produzieren. So auch im "Inclusive Growth and Development Report", in dem die Autoren anmerken, dass noch immer viel zu wenige Menschen vom Wirtschaftswachstum profitierten, die Sozialausgaben viel zu niedrig und die Bildungschancen ungerecht verteilt seien.

Schwabs Mutmacher: die "Global Shapers"

Hier will das Forum Entwicklungen anschieben – auch indem es engagierte junge Menschen fördert. "Global Shapers" heißt das Netzwerk von Talenten zwischen 20 und 30, die sich in ihren Regionen in Hubs (dt. Drehscheiben) organisieren und Projekte auf die Beine stellen. Wenn Schwab von dieser Jugend spricht, kommt er ins Schwärmen: "Wenn ich jemals in eine Depression verfallen würde, dann würde ich auf eine Reise gehen und nur die Hubs der Global Shapers besuchen. Dann käme ich wieder vollgeladen mit Energie und Optimismus zurück." Weltoffen, miteinander vernetzt, positiv und sehr sozial eingestellt: Diesen Stimmen will Schwab Gehör verschaffen – in ihren Regionen und bei den großen Konferenzen.

Inzwischen engagieren sich 5.000 Global Shapers über 452 Hubs in 169 Ländern und Regionen. Auf den Philippinen bauen Shaper öffentliche Bibliotheken, in Nigeria vermitteln sie zwischen Jugendlichen und der Polizei. In Griechenland organisieren sie Praktika und Weiterbildungen für Hochschulabsolventen, und in Mexiko errichten sie Selbstversorger-Farmen für die tausende an der Grenze zu den USA gestrandeten Arbeitsmigranten, die dort unter erbärmlichen Bedingungen leben.

Krisen, mit denen sich auch die Regierungen beschäftigen – mitunter zu sehr, wie Klaus Schwab findet. "Natürlich müssen wir die Griechenland- und die Flüchtlingskrise lösen", sagt er. "Aber wenn mir ein europäischer Minister sagt, er war in über 50 Sitzungen, die sich um Griechenland drehen: Wo ist da noch die Kraft für die großen Herausforderungen, die uns erst noch bevorstehen?"

Vierte industrielle Revolution – "ein Tsunami, auf den wir nicht vorbereitet sind"

Es ist nicht nur die heraufziehende Wasserkrise, die Schwab beunruhigt. Nichts beschäftigt ihn derzeit so wie die vierte industrielle Revolution: die tiefgreifenden Umwälzungen ganzer Branchen und Gesellschaften durch die rasanten Entwicklungen in Bereichen wie Internet, künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, Gentechnik, 3D-Druck oder Robotik. Gerade hat er ein Buch darüber geschrieben und war überrascht, wie überfordert die politischen Systeme weltweit sind. "Das ist ein Tsunami, auf den wir nicht vorbereitet sind. Nehmen Sie selbstfahrende Autos, nehmen Sie Genetic Editing, das man heute in jedem kleinen Labor betreiben kann", sagt er. "Die Unternehmen treiben diese Revolution mit hoher Geschwindigkeit voran, und das politische System muss dafür die notwendigen Regeln setzen, und zwar global. Wo ist das Verständnis für diese Fragen?"

Frühzeitig sehen, was kommt, und einen Dialog einleiten: So hat schon 1971 alles angefangen, als der junge Professor Schwab – doppelt promoviert in Maschinenbau und Betriebswirtschaft – aus den USA zurückkam. Seine Idee: ein Forum zu gründen, in dem europäische Wirtschaftsführer die neuesten Managementmethoden und -theorien kennenlernen. Für die erste Konferenz nahm er einen Privatkredit bei einem befreundeten Industriellen auf – und die Premiere verlief so erfolgreich, dass er danach mit 25.000 Schweizer Franken die Stiftung gründen konnte, aus der später das World Economic Forum hervorgehen sollte.

Schon damals entwickelte Schwab seinen Multi-Stakeholder-Ansatz, also die Vorstellung, dass ein Unternehmen nicht nur Aktionären und Kunden verpflichtet ist, sondern allen, die sein Handeln berührt: Angestellte, Gesellschaft, Politik. Nur logisch also, dass sich das Forum 1974 auch für Politiker öffnete und die Perspektive auf internationale Krisen und Herausforderungen wie den Nahostkonflikt erweiterte.

Davos ist nicht alles

Manche Beobachter vermissen heute die spektakulären Durchbrüche und fragen, ob das Forum noch die vermittelnde Rolle spielt. Auf jeden Fall, sagen Schwabs Mitarbeiter: In Davos fänden viele Gespräche statt, die eben nicht an die Öffentlichkeit gelangten – zum Beispiel weil die Dialogpartner dann in der Heimat erledigt wären. Diskretion sei schon immer eine Stärke von Davos gewesen – und Geduld. Die ist heute nötiger denn je, sagt Schwab: An internationalen Konflikten seien heute so viele Parteien beteiligt, dass der Dialog schwieriger sei als in früheren Krisen.

Und es findet ja auch nicht alles in Davos statt. Das Forum führt jährliche Innovations- und Strategiekongresse in China und den arabischen Emiraten durch, organisiert regionale Netzwerktreffen und Konferenzen. Zum Beispiel in Myanmar: "Professor Schwab war 2011 dort und wir haben direkt angefangen, Beziehungen aufzubauen", sagt Anne-Catherine Gay-des-Combes vom Asien-Team. Zwei Jahre lang bereitete sie eine große Konferenz zur Entwicklung des sich gerade öffnenden Landes vor – mit über 1.000 Teilnehmern. "Wir wollen Vertrauen zwischen den Akteuren aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft herstellen", sagt sie.

Man muss sich dem Wandel stellen, sagt Schwab. "Es gibt viele, die einer Bunkermentalität unterliegen. Es ist ihnen zu viel, was um sie herum passiert, und darum schotten sie sich ab, und Schuld haben immer die anderen. Also eine weltfremde und fortschrittsfeindliche Mentalität." Immer wieder beklagt Schwab öffentlich diesen Trend bei den politischen Eliten, auch wenn er sich hüten würde, einzelne Staatschefs oder andere handelnde Personen beim Namen zu nennen. Zurückhaltung, Diskretion.

Prof. Dr. Dr. Klaus Schwab hatte bereits Anfang der 1970er Jahre ein Konzept entwickelt, nach dem Unternehmen allen Interessengruppen der Gesellschaft dienen müssen, um langfristig erfolgreich zu sein. (Foto: Sebastian Pfütze)

Weltmann mit schwäbischer Bodenständigkeit

So beeindruckend seine Vita ist, die lange Liste von Orden und Auszeichnungen und die Gemeinschaft der Einflussreichen und Mächtigen, in der er verkehrt: Wer Schwab gegenübersitzt, erlebt einen zurückhaltenden, bodenständigen Mann bis in die kleinen Details. Keine protzige Uhr, keine teuren Manschettenknöpfe. Die Sprache: ein beruhigendes Schwäbisch, durchsetzt mit den Spuren von drei Jahrzehnten französischer Schweiz und einem Leben mit der Wissenschaftssprache Englisch. Und das alles getragen von einer sonoren, ruhigen Stimme, die zu weiten Bögen ausholt, vor allem wenn es um technische Entwicklungen geht, die ihn gerade beschäftigen.

"Ich bin Ingenieur mit meinem Herzensblut", sagt Schwab, "diese Welt der Wissenschaften, des Neuen, des Innovativen war für mich immer faszinierend. Und das war auch eine der Triebkräfte des Forums." Jeden Abend liest er von acht bis elf. Und wenn er morgens ins Büro kommt, spät, wie er sagt, nämlich erst um neun, dann war er schon mit dem Hund unterwegs –"leider ist er alt, darum kann ich nicht mehr mit ihm rennen" – und hat eine Dreiviertelstunde geschwommen, dabei CNN, BBC und Deutsche Welle gesehen und auch die Tagespresse schon gesichtet.

Lernen, reisen und vernetzen

"Man muss heute lernen, permanent unzufrieden und trotzdem glücklich zu sein", sagt Schwab. "Die Welt ändert sich so rasch, dass Sie permanent sich infrage stellen und überlegen müssen: Was muss ich ändern, um mit dieser Geschwindigkeit Schritt zu halten oder, was ich gerne mit dem Forum möchte, der Geschwindigkeit noch ein bisschen vorwegzulaufen?" Sich ständig zu fordern und neu zu erfinden – natürlich ist das "stressful", sagt Schwab. "Sie müssen Ihre physische Fitness pflegen, und Sie dürfen sich von Einzelheiten nicht zu sehr aus dem Gleichgewicht bringen lassen." 18 Überseereisen hat er allein im letzten Jahr unternommen, "und da stehen dann pro Woche 60 bis 70 Termine im Kalender." Zu seinem inneren Netzwerk, mit dem er häufig kommuniziert, zählt er 3.000, zum erweiterten Kreis 10.000 Menschen.

Und es wird nicht weniger. Gerade hat die Schweiz dem Forum den Status als Internationale Organisation verliehen, vergleichbar mit Institutionen wie dem Roten Kreuz. Das Forum kann nun also auch Verträge mit Regierungen schließen.

Neben dem Forum betreibt Schwab zusammen mit seiner Frau Hilde auch noch eine zweite Stiftung. Ihr Ziel ist die Förderung von Social Entrepeneurs – Menschen also, die mit unternehmerischen Methoden dort ansetzen, wo der Markt oder die Politik versagen. Und die sich durchaus unbequem äußern: Nina Smith etwa, Gründerin der Organisation Goodweave, die gegen Kinderarbeit in der Teppichindustrie kämpft – und auf der Stiftungsseite konstatiert: "Wir lassen 168 Millionen Opfer von Kinderarbeit im Stich." Trotz aller Bekenntnisse internationaler Unternehmen zu Werten wie Corporate Social Responsibility (CSR).

Kein Gedanke ans Aufhören

Schwab selber sieht kritisch, wie leichtfertig der Begriff CSR heute verwendet wird, in einer Reihe von Aufsätzen plädiert er für eine neue, strengere Definition von unternehmerischer Verantwortung. Auch das Forum bezieht klar Stellung gegen soziale Ungleichheit, so unterstützt es die Entwicklungshilfeorganisation Oxfam in ihrer Kampagne gegen die Ungleichverteilung des globalen Reichtums: 62 Menschen besitzen heute so viel wie die gesamte ärmere Hälfte der Menschheit, konstatierte Oxfam im Vorfeld des letzten Gipfels. Vorbei die Zeiten, in denen Davos beliebtes Angriffsziel von Globalisierungskritikern war. Das Forum hat sich geöffnet, und selbst Bono, der die Kongressteilnehmer einst spöttisch als "fat cats in the snow" bezeichnete, ist heute mit dabei.

Noch immer bleibt so viel zu tun, so viele Gespräche, und bald geht es ja schon wieder auf die nächste Reise: "Ich will mir Start-ups ansehen, erst in Berlin, und dann Shenzhen und Guangzhou", sagt Schwab, "darauf bin ich sehr gespannt." 78 Jahre alt ist er jetzt, vor zwölf Jahren hat ihn die Schweiz aus seiner Professur zwangspensioniert. Kein Gedanke ans Aufhören? "Solange mein Blutdruck 130 zu 70 ist, weiß ich, dass ich noch stressgeprooft bin", sagt Schwab mit einem leisen Lächeln. Und weg ist er.