Es gibt nur eine Wahrheit

Der russisch-ukrainische Konflikt und die Lage in Russland werden in den Staaten Europas sehr unterschiedlich wahrgenommen. Warum? Darüber diskutierten internationale Medienvertreter am Montag in Berlin auf Einladung der Bertelsmann Stiftung und der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit.

Ansprechpartnerin

Nach der Ermordung des russischen Oppositionellen Boris Nemzow war die offizielle russische Seite schnell mit vier oder fünf "heißen Spuren" bei der Hand, über die mit Gusto von traditionellen und sozialen Medien in Russland und anderswo breit spekuliert wurde. Von islamistischen Racheakten über tschetschenische Attentäter oder die CIA bis hin zu einem potentiellen (natürlich) ukrainischen Rivalen um die Gunst einer Frau ist die Rede. Ein gelungenes Beispiel für etwas, was die Putinsche Informationspolitik – man könnte auch sagen, Propaganda-Maschinerie – perfekt beherrscht, nämlich Vernebelungstaktik. Viele Theorien, überzeugend vorgebracht und von möglichst vielen wiederholt und ausgeschmückt, verwirren, lenken ab – beispielsweise vom Krieg in der Ukraine und Russlands Rolle darin. Ja, sie helfen sogar, vorhandene Feindbilder – Ukraine, USA – weiter zu verschärfen. Es gibt also viele Lügen, aber, wie der russische Schriftsteller Boris Pasternak in seinem einzigen und weltberühmten Roman sagt, "es gibt nur eine Wahrheit".

Wie die aktuelle russische Informationspolitik funktioniert, ob und wie Putins Propaganda die europäische Wahrnehmung beeinflusst, und wie dem zu begegnen ist, war Thema einer Diskussion, zu der die Bertelsmann Stiftung und die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit eine internationale Runde von Medienvertretern am Montag in Berlin eingeladen hatten.

Gehirnwäsche à la Putin

Das russische Fernsehen ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen: 95 Prozent der Information kommt aus dem Fernsehen, und das läuft in den meisten Haushalten rund um die Uhr. Der Informationsgehalt ist haarsträubend; wer da länger zuhöre, so die die russische Medienlandschaft beobachtenden Teilnehmer der Runde, sei entsetzt ob der eklatanten Unwahrheiten, die verbreitet und geglaubt würden. Echter Informationsjournalismus sei nicht vorhanden, hätte es aber auch schwer, gegen die Programme und bekannten Gesichter der russischen Kanäle anzukommen.

Europäische Stimmen

Für Polen und Finnen ist der Fall klar: Methoden und Inhalte der russischen Propaganda kennt man noch aus der Zeit des polnischen Kriegsrechts. Also misstraut man ihnen. In Polen gibt es keine "Russland-Versteher" wie in Deutschland, die russische Propaganda funktioniert schlicht nicht. Die polnische Presse ist zu 98 Prozent gegen Putin eingestellt.

In Finnland, so der in Berlin anwesende Vertreter der finnischen Medien, "kennen wir unsere Russen" noch aus früheren Zeiten, "wir glauben ihnen nicht". Neu sei nur die Schnelligkeit der Reaktionen, wie das Beispiel Nemzow zeige.

Auch der ukrainische Teilnehmer betonte die relative Immunität der ukrainischen Medien gegen die russische Propaganda. Allerdings sei es schwierig bis unmöglich für seriöse Journalisten, geeignete Antworten gegen "Propaganda-Krieger" zu finden, vor allem im Osten des Landes, wo es praktisch keine unabhängigen Berichterstatter mehr gebe.

Und in Deutschland?

In Deutschland scheint das Bild anders zu sein, so die Wahrnehmung der Diskussionsteilnehmer: Warum halte, wie vor wenigen Tagen geschehen, die Moskau-Korrespondentin der ARD, Golineh Atai, es für nötig, deutsche Journalisten aufzufordern, angesichts massiver Drohungen und Beschwerden über kritische Russland-Berichterstattung, "keine Angst" zu haben? Putin-kritische Meinungsbeiträge würden auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zunehmend nicht mehr gesendet, in renommierten Talkshows träten immer wieder die gleichen, wenig kritischen Personen auf; kritische Journalisten würden nicht nur nicht mehr um ihren Kommentar gebeten, sondern erhielten Hass- und Drohbriefe – und das in einem Land, das auf seine Pressefreiheit stolz ist. Was stimme da nicht?

Was tun?

Die Teilnehmer der Gesprächsrunde diskutierten die möglichen Ursachen für diese offenbar "typisch deutsche" Problematik. Sie entwickelten eine Reihe konkreter Vorschläge, wie in Deutschland der Putinschen Propaganda begegnet werden könne: von der Analyse der vorrangig benutzten Propaganda-Bilder und -Themen wie beispielsweise des immer wieder wiederholten Vorwurfes, die Europäer hätten auf dem Maidan faschistische Gruppierungen unterstützt und an die Macht gebracht, über Aufklärungskampagnen zur tatsächlichen Situation in der Ukraine bis hin zum proaktiven Kontakt zu Redaktionen, aber auch Schulen, und Organisationen, deren Rolle als "Putin-Lobby" in Deutschland umstritten ist.

Das Fazit der Runde: Bei aller Besorgnis um die Qualität der deutschen Berichterstattung über die Ukraine und Russland sollte der Propaganda-Einfluss nicht zu hoch gespielt werden. Eine Presse, die um größtmögliche Objektivität bemüht ist, ist besser als eine, die zu Objektivität – aus welchen Gründen auch immer – gar nicht mehr in der Lage ist und sich auf Propaganda-Krieg reduzieren lässt.

Lesen Sie außerdem: "Ich will nicht, dass noch mehr sterben" – der Publizist Boris Reitschuster zur Lage Russlands nach dem Mord an Boris Nemzow.