Junge Europäer und Asiaten sitzen im Stuhlkreis und diskutieren.

Neue Perspektiven vom Dach Saigons

Manchmal wirken Asien und Europa wie alte Nachbarn, die sich zwar im Hausflur zunicken, dabei aber kaum um ein gegenseitiges Kennenlernen bemüht sind. Um das zu ändern, brachte die Bertelsmann Stiftung 28 junge Führungskräfte aus beiden Kontinenten in Vietnam zusammen. Das Ziel: Konzepte für eine gemeinsame Zukunft entwickeln.

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Text von Bernhard Bartsch und Serhat Ünaldi für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 1/2015.

Den Dschungel sieht man von hier oben nicht mehr, dafür Häuser und Straßen, so weit das Auge reicht, und wenn irgendwo Rauch aufsteigt, dann von Baustellen oder Fabriken, nicht von Bombenangriffen. Dass die westliche Welt einst glaubte, von hier einen Angriff auf ihre Werte und ihren Lebensstil beobachten zu können, erscheint heute unvorstellbar.

Die Dachterrasse des geschichtsträchtigen Caravelle Hotels war einst der Logenplatz des Vietnamkriegs. Mit Feldstechern verfolgten Journalisten, Politiker und Militärs vom damals höchsten Gebäude der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon die Gefechte auf der anderen Seite des Flusses. Im Caravelle wurden Details und Gerüchte über den Kriegsverlauf ausgetauscht. Reporter schrieben hier bei Bier und Cocktails ihre Kabelberichte, während an den Nebentischen Diplomaten die Weltlage analysierten und Gegner des südvietnamesischen Premierministers dessen Sturz planten. Man diskutierte über die kommunistische Bedrohung, über Sinn und Grausamkeit des Krieges und was aus der Welt wohl werden würde, sollten die Amerikaner in Vietnam verlieren. Auch nachdem der Vietnamkrieg 1975 endete, prägten die Debatten, die vom Caravelle ausgegangen waren, weiter die Weltpolitik.

Ein guter Ort also, um darüber zu reflektieren, wo die Welt Generationen später steht – und wohin sie sich entwickelt. Im November 2014 versammelte die Bertelsmann Stiftung im Caravelle 28 junge Führungskräfte aus Europa und Asien zum "Asia-Europe Young Leaders Forum". Unter dem Motto "Shaping Tomorrow's World" diskutierten sie über Zukunftsfragen, insbesondere die Bedeutung der Mittelschichten als Treiber von wirtschaftlichem, politischem und gesellschaftlichem Wandel. Das Forum, das zum zweiten Mal in Kooperation mit dem Asien-Pazifik-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (APA) ausgerichtet wurde, fand am Rande der Asien-Pazifik-Konferenz (APK) statt, zu der sich Spitzenvertreter aus Unternehmen und Politik alle zwei Jahre in wechselnden asiatischen Ländern treffen.

Was verbindet junge Menschen aus Deutschland, Frankreich, Griechenland, der Tschechischen Republik, China, Indien, Vietnam, Thailand, Südkorea, Japan, den Philippinen und Singapur? Immer mehr, lautete die Überzeugung der Teilnehmer, die zu gleichen Teilen aus der Wirtschaft und dem öffentlichen Sektor kamen. Die Gesellschaften in Ost und West sind immer stärker miteinander verflochten und damit darauf angewiesen, für globale Herausforderungen gemeinsame Lösungen zu finden.

Austausch über Kontinente

"Sie haben das Glück, die erste globale Generation zu sein", erklärte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel den Teilnehmern im Rahmen eines gemeinsamen Frühstücks. In seiner Jugend sei man froh gewesen, wenn man mal einen Franzosen getroffen habe, scherzte der SPD-Politiker. Heute sei der Austausch über die Kontinente hinweg selbstverständlich. Noch ein anderer Unterschied fiel Gabriel auf: Waren Zukunftsdiskussionen früher geprägt von ideologischen Fragen wie der Verbreitung von Demokratie, so sei die neue Generation pragmatischer orientiert. Statt sich am großen Entwurf abzuarbeiten, ringe sie lieber um realisierbare Lösungen.

Das mag daran liegen, dass die Welt komplexer geworden ist und es schwieriger ist, ideologisch klar Position zu beziehen und die Wahrheit für sich zu beanspruchen. Kaum eine Stadt zeigt das deutlicher als Ho-Chi-Minh-City, wie Saigon seit dem Ende des Vietnamkriegs offiziell heißt. Damals waren die Fronten noch klar: hier Kommunismus, dort Kapitalismus. Heute existiert in Ho-Chi-Minh-City beides nebeneinander. Vor offiziellen Gebäuden wehen nach wie vor die roten Flaggen mit Hammer und Sichel, den Symbolen der nach wie vor herrschenden Kommunistischen Partei. Doch das Stadtbild ist auch geprägt von wucherndem Kapitalismus: Es entstehen neue Wolkenkratzer und Shoppingmalls; immer mehr Menschen fahren in teuren Importautos oder treffen sich in Coffee-Shops; auf Smartphones werden Nachrichten auf Facebook oder Twitter gecheckt. Dieser Spagat zwischen politischer Erstarrung und wirtschaftlichem Fortschritt schlägt sich unter anderem im Bertelsmann Transformation Index (BTI) nieder: In der 2014-Auswertung lag Vietnam bei wirtschaftlicher Transformation mit Rang 57 von 129 Ländern in der oberen Hälfte. Bei der politischen Transformation belegte das Land dagegen nur Rang 109.

Die Welt begreifen

Doch mit Statistiken wird man den Veränderungen nicht gerecht. "Gehen Sie raus und schauen Sie sich an, wie die Menschen leben", gab Liz Mohn, stellvertretende Vorstandsvorsitzende der Bertelsmann Stiftung, den jungen Führungskräften mit auf den Weg. "Fortschritt ist nur möglich, wenn wir voneinander lernen."

Denn die Grenzen zwischen entwickelten Nationen und Schwellenländern verschieben sich. Im Jahr 2030 werden zwei Drittel der globalen Mittelschicht in Asien leben, so eine Prognose der Brookings Institution. Ihre Lebensvorstellungen, gesellschaftlichen Werte, historischen Erfahrungen und politischen Ziele werden die Welt verändern. Asiens Bedeutungszuwachs steht im Westen eine Mittelschicht gegenüber, die sich in Teilen vom Abstieg bedroht fühlt. Doch die Verschiebungen müssen kein Nullsummenspiel sein, wenn Ost und West die Chancen des Wandels konstruktiv und verantwortungsvoll nutzen. "Der Aufstieg der Mittelschichten in Asien kann sich sehr positiv auf die Mittelschicht in Europa auswirken", erklärte Uri Dadush, Senior Associate am Carnegie Endowment for International Peace. Dafür müssten allerdings Fragen von globaler Verteilungsgerechtigkeit neu verhandelt werden. Die Ressourcen der Welt und die Gefahren des Klimawandels lassen beispielsweise kaum zu, dass die asiatischen Mittelschichten sich in ähnlicher Weise motorisieren wie die europäischen. Doch wie kann hier ein Ausgleich geschaffen werden, der die Interessen aller Weltregionen gleichermaßen berücksichtigt?

Antworten auf solche Fragen sind nicht einfach zu finden. "Im globalen Kontext Verantwortung zu übernehmen, ist leichter gesagt als getan", erklärte Ton Nu Thi Ninh, ehemalige vietnamesische Spitzenpolitikerin und Botschafterin in Brüssel. Trotz Vietnams wirtschaftlichen Fortschritts säßen die Wunden des Vietnamkriegs noch immer tief. Seit Jahren setzt sich Frau Ninh für die Opfer der Agent-Orange-Einsätze ein. Von 1961 bis 1971 versprühten die Vereinigten Staaten fast 100 Millionen Liter giftige Chemikalien über Vietnam, darunter auch das Entlaubungsmittel Agent Orange (AO), das hochtoxisches Dioxin enthielt. 4,8 Millionen Vietnamesen wurden dem Gift ausgesetzt. Bis heute leiden sie und ihre Nachkommen unter den Folgen, den genetischen Schäden, die auch in dritter und vierter Generation noch zu schweren geistigen und körperlichen Behinderungen führen können. Das Ausmaß des Leidens zeigte die Politikerin den Teilnehmern des Young Leaders Forums im Hoa Binh Peace Village, einem Pflegeheim für Agent-Orange-geschädigte Kinder – ein bedrückendes Erlebnis, das für die jungen Führungskräfte eine wichtige Botschaft enthielt: Verantwortung zu tragen bedeutet mehr denn je, vorausschauend zu denken. Denn eine heute getroffene Entscheidung ist schneller Geschichte, als man denkt, und  prägt die Nachwelt, mit all ihren positiven und negativen Konsequenzen. 

Asia-Europe Young Leaders Forum 2014 in Ho-Chi-Minh-Stadt: Die Teilnehmer aus Asien und Europa mit Liz Mohn. (Foto: Frederik Wissink)

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