Eine junge Frau und ein junger Mann stehen vor der Eingangstür eines Backsteinhauses.

Willkommen sein

Das Wohlstandsparadies Deutschland wird sich aus eigener Kraft nicht erhalten
können. Es braucht eine bedarfsgerechte Einwanderungspolitik. Doch Flüchtlingswellen aus Kriegsgebieten, der Migrationsdruck aus Afrika und Bilder im Mittelmeer treibender Boote haben eine nur auf Fachkräfte beschränkte Willkommenskultur auf den Prüfstand gestellt.

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Text von Johannes v. Dohnanyi für change – das Magazin der Bertelsmann Stiftung. Ausgabe 2/2015.

Mit ganz "großem Bahnhof" wurde am 10. September 1963 der portugiesische Zimmermann Armando Sá Rodrigues im Köln-Deutzer Bahnhof empfangen. Die Blechkapelle begrüßte den einmillionsten Gastarbeiter mit einem Tusch und intonierte dann "Wem Gott will rechte Gunst erweisen". Ein Arbeitgebervertreter übergab dem "lieben Iberer" einen Blumenstrauß und ein neues Moped. Schließlich erklärte er dem im wahrsten Sinn des Wortes sprachlosen Portugiesen, dass "die Deutschen eigentlich ganz froh wären, wenn wir in unserem Land nicht gezwungen wären, so viel Ausländer fern der Heimat beschäftigen zu müssen. Nun sind Sie aber da ... und Sie sollen es so gut haben, wie es eben geht." Damit und einem fröhlich geschmetterten "Auf in den Kampf, Torero" wurde Senhor Sá Rodrigues dann in sein neues Leben als Gastarbeiter in Deutschland entlassen.

Im Guten wie im Schlechten – Sprache ist immer verräterisch. Und wenn Veränderungen in der Wortwahl ein Indikator auch für soziale Veränderungen sind, dann ist die deutsche Gesellschaft – nach Jahrzehnten kollektiver Realitätsverweigerung – auf dem Weg ins Hier und Jetzt. Auf einmal gilt Zuwanderung nicht mehr als grundsätzlich unerwünschtes und daher zeitlich wie quantitativ zu begrenzendes Phänomen. Im Gegenteil arbeiten Politik, Kirchen, Sozialverbände und Wirtschaft daran, der Gesellschaft eine "Willkommenskultur" im Umgang mit den Migranten zu vermitteln.

Einwanderungsland

"Die Deutschen gewöhnen sich daran, dass die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist," erklärt Ulrich Kober von der Bertelsmann Stiftung die Daten der jüngsten Studie zum Stand der Willkommenskultur. Auch wenn nach den Regeln der Statistik noch nicht von einem Trend geredet werden kann, so der für die Studie verantwortliche Kober, spricht der Vergleich der von TNS Emnid seit 2012 bereits zum zweiten Mal ermittelten Werte "für die These, dass die deutsche Einwanderungsgesellschaft 'reifer' geworden und Deutschland mittlerweile eines der offensten Einwanderungsländer für Arbeitsmigranten weltweit ist."

Kam zum Studieren nach Deutschland: Oksana Kalaschnikowa (25) aus Russland besucht mit einem Studenten-Visum die Ruhr-Universität Bochum.

Unter den Deutschen – mit allerdings markanten Unterschieden zwischen den alten und den neuen Bundesländern – wächst die Bereitschaft, Migranten nicht mehr als Gäste auf Zeit, sondern als Neubürger auf Dauer zu betrachten.

Eigentlich war es nie anders. Denn noch immer haben sich die Deutschen, nach anfänglichen Schwierigkeiten, mit den ins Land geholten Fremden arrangiert. Von den 200.000 in Frankreich verfolgten Hugenotten, die Friedrich der Große im 18. Jahrhundert nach Preußen holte, versprach sich der Monarch wissenschaftliche, ökonomische und soziale Impulse für sein Reich. Die Rechnung ging auf.

Nur dank der erfolgreichen Integration hunderttausender polnischer Gruben- und Stahlarbeiter konnte sich das Ruhrgebiet vor etwa 120 Jahren zum industriellen Herzland des Deutschen Reiches entwickeln. Am wirtschaftlichen Wiederaufbau Westdeutschlands nach dem 2. Weltkrieg hatten Millionen Flüchtlinge und Vertriebene entscheidenden Anteil. Und ohne süd- und südosteuropäische Gastarbeiter wie Armando Sá Rodrigues wäre das Wirtschaftswunder wohl ausgefallen.

 Und auch der von Kober jetzt attestierte Reifungsprozess hat mit humanitären Einsichten oder gar altruistischen Motiven wenig zu tun: "Wir werden unseren Wohlstand langfristig nur sichern können", schreibt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles im Vorwort zu der vom Bund mitfinanzierten Migrations-Wanderausstellung 'Yes, we're open' "wenn wir ein attraktives Land für gut ausgebildete Zuwanderinnen und Zuwanderer sind."

Von derzeit noch 81 Millionen wird die Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten ohne Einwanderer um bis zu 20 Millionen Einwohner schrumpfen. Mit anhaltend niedrigen Geburtenraten und dem Eintritt der Babyboomer ins Rentenalter hat die Überalterung der Gesellschaft bereits begonnen. Ohne robuste Zuwanderung und damit die Steuer- und Sozialabgaben vieler neuer Migranten wird der Sozialstaat in seiner bestehenden Form kaum noch finanzierbar sein. Von ländlichen Regionen mit nur noch begrenzter ärztlicher und pflegetechnischer Versorgung ist in den Vorhersagen die Rede, von weiten Landstrichen ohne Post, ohne Läden, ohne Gasthaus und mit radikal reduziertem Angebot des öffentlichen Nahverkehrs. Schon schlägt der Mittelstand, das Herz des Industriestandortes Deutschland, angesichts der wachsenden Facharbeiterlücke Alarm.

Fachkräfte fehlen

Allein in den kommenden zehn Jahren, kommentiert der SPD-Innenpolitiker Burckhard Lischka die Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), "werden uns wegen des Geburtenrückgangs über fünf Millionen Fachkräfte fehlen." Und auch Christine Langenfeld, die Vorsitzende des unabhängigen Sachverständigenrats Migration, ist davon überzeugt, dass "Deutschland mehr qualifizierte Zuwanderung braucht, sowohl von Hochqualifizierten als auch von nicht akademischen Fachkräften."

Fachkraft aus dem Ausland: Stamatis Stamoglou (42) aus Griechenland wurde von Thyssen-Krupp als Ingenieur angeworben und arbeitet auf der Werft in Kiel als Qualitätssicherer im Rohrbau.

Die Zahlen sprechen für sich. Im Jahr 2012 etwa hatte laut dem Statistischen Bundesamt fast jeder fünfte der 80,4 Millionen Einwohner Deutschlands einen Migrationshintergrund. Allein die zu dieser Gruppe zählenden 6,5 Millionen Ausländer ohne deutschen Pass, so berechnete das Frankfurter "Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung" (ZEW) im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, spülten in diesem Jahr einen Überschuss von 22 Milliarden Euro in die deutschen Steuer- und Sozialkassen. Im Durchschnitt, rechnete ZEW-Experte Holger Bonin vor, "zahlt jeder dieser Ausländer jährlich 3.300 Euro mehr an Steuern und Sozialabgaben, als er an staatlichen Leistungen erhält."

Mit sieben Prozent lag die Gründerquote bei Migranten und ihren Kindern im darauffolgenden Jahr um 50 Prozent über der der "deutschen" Deutschen. Etwa 625.000 Unternehmen von Migranten in Deutschland haben bisher rund eine Million Arbeitsplätze geschaffen. Fast jedes sechste dieser Unternehmen bildet Nachwuchskräfte aus. Junge männliche Migranten, so schrieb die KfW-Bank in einer von der "Zeit" 2013 in Auftrag gegebenen Untersuchung, sind mittlerweile "eine tragende Säule des Gründungsgeschehens in Deutschland."

Trotz dieser und vieler anderer positiver Daten wird weiterhin darüber gestritten, ob Deutschland sich endlich auch offiziell zum Einwanderungsland erklären soll, was genau "ein attraktives Land für gut ausgebildete Zuwanderinnen und Zuwanderer" ausmacht, welche gesetzlichen Regelungen es dafür bräuchte und, vor allem, wer da eigentlich willkommen geheißen werden soll.

Grob gesagt lassen sich Zuwanderer in vier Gruppen teilen. Die in den EU-Verträgen geregelte Freizügigkeit erlaubt EU-Bürgern die Arbeitsniederlassung in Deutschland. Bereits dauerhaft beschäftigte Nicht-EU-Bürger haben das Recht auf Familienzusammenführung. Für Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber wiederum gelten besondere und von humanitären Kriterien geregelte Einreisebestimmungen. Die von Nahles und anderen geforderte "Willkommenskultur"  gilt daher vor allem der vierten Gruppe, den heftig umworbenen Arbeitskräften aus Drittstaaten.

Vom 28. April 1965, als der Bundestag das erste "Ausländergesetz" verabschiedete, dauerte es vier Jahrzehnte, bis 2005 schließlich das „Zuwanderungsgesetz“ und das "Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern" in Kraft traten. Mit dem zwei Jahre später beschlossenen "Nationalen Integrationsplan" mit mehr als 400 konkreten Maßnahmen schien es, als habe die Politik in der Frage der Zuwanderung aus Drittstaaten – endlich – einen breiten und parteiübergreifenden Konsens gefunden: Damit die deutsche Wohlstandsgesellschaft eine Zukunft hat, so Ministerin Nahles seitdem, müssen die Zuwanderer "in der Mitte unserer Gesellschaft leben."

Bürokratische Hürden

Längst tobt der Wettbewerb um die global knappe Ressource der in Zukunftsberufen ausgebildeten Techniker und Akademiker, Wissenschaftler und Start-up-Gründer, Facharbeiter mit Berufserfahrung, Mediziner und Pflegekräfte, die das duale Ausbildungssystem als Chance für eine berufliche Zukunft sehen. Etwa mit der Blue Card, Erwachsenen-Deutschkursen schon vor der Einreise oder der Ausbildung von Migranten zu Betreuern in Kitas und Vorschulen. Mit verstärkter Sprachförderung für Migrantenkinder an den Grundschulen und zielorientierter Unterstützung begabter Jugendlicher mit Migrationshintergrund, um ihnen den Übergang ins Gymnasium und später an deutsche Hochschulen zu erleichtern. Spezielle Frauenprogramme sollen die Teilhabe der Migrantinnen an der deutschen Gesellschaft fördern, im Ausland erworbene Schul- und Hochschulabschlüsse leichter anerkannt werden.

Es sind die Tücken des deutschen Verwaltungsalltags, die von Bundesland zu Bundesland unterschiedlichen Regelungen und manchmal auch nur menschliche Unzulänglichkeiten, an denen solch gute oder zumindest doch gut gemeinte Ansätze immer wieder scheitern. Da gibt es Mitarbeiter bei den Ausländerbehörden, die außer der deutschen keine andere Sprache beherrschen. Einwohnermeldeämter, die Termine – auch für Menschen ohne Internetzugang – nur noch online vergeben. Krankenhäuser, in denen es keine Hilfe beim Ausfüllen der Anmeldeformulare gibt. Fahrkartenautomaten im Nahverkehr, deren Bedienungsanleitung schon so manchen Deutschen verzweifeln lässt. Oder Sätze im Erstattungsantrag für Schulspeisungskosten wie "Die Beantragung ist freiwillig, im Falle der Beantragung sind jedoch gemäß § 60 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch (SGB I) alle für die Sachaufklärung erforderlichen Tatsachen anzugeben und die verlangten Nachweise vorzulegen, andernfalls kann der Leistungsträger die Leistung nach § 66 SGB I ganz oder teilweise versagen."

Hofft auf ein sicheres Leben und Arbeit in Deutschland: Fahner Essac Shabah (31) aus dem Irak wartet auf die Bewilligung seines Asylantrags.

Wie es besser gemacht werden kann, lässt sich beispielsweise von Kanada lernen. Dort erhalten Migrationswillige die Aufenthaltsbewilligung aufgrund eines transparenten und vor allem verständlich formulierten Punktesystems etwa für Berufsqualifikation und Erfahrung, ihr Alter und gute Sprachkenntnisse. Im Regelfall sollte der Migrationsantrag bereits vor der Einreise über das Internet beziehungsweise bei den diplomatischen Vertretungen im Ausland gestellt und beschieden worden sein. Aber auch hier wurde es komplizierter: Weil die Zahl derer stieg, die trotz der rigiden Selektion dann doch keinen Arbeitsplatz fanden, wurde das kanadische System stark modifiziert. Inzwischen gibt es einzig für den Nachweis eines Arbeitsplatzes schon bei Antragstellung die Hälfte der maximal erreichbaren 1.200 Punkte.

Ein an diesem System orientiertes Modell hatte auch die SPD im Sinn, als sie im März 2015 in einem Positionspapier ein regelrechtes "Einwanderungsgesetz" forderte. Vermutlich ist das Bedauern über diesen Vorstoß inzwischen groß. Kreuzte er sich doch mit den Flüchtlingsströmen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien, dem Irak, Libyen oder Somalia, der rasant steigenden afrikanischen Armutsmigration und den tausenden Flüchtlingen im Mittelmeer.

Seitdem geht es in der emotional aufgeladenen Debatte drunter und drüber. Die Politik, die sich gerade erst mühsam auf eine Strategie einer bedarfsorientierten Migration geeinigt hatte, wird überrollt von einer Welle menschlicher Solidarität. Mit den Bildern aus den Flüchtlingslagern, von zerbombten Städten und dem Horror islamistischer Mörderbanden, vor allem aber den täglichen Tragödien auf dem Mittelmeer im Kopf, haben weite Teile der Zivilgesellschaft den Begriff der Willkommenskultur "gekapert". Fast überall im Land schießen Flüchtlingsinitiativen wie Pilze aus dem Boden. Vor den Büros der Kirchen drängeln sich ehrenamtliche Helfer. Allen fremdenfeindlichen Pegida-Märschen, anti-islamischer Hooligan-Randale und brennenden Asylbewerberheimen zum Trotz: Noch nie, berichten die Meinungsforschungsinstitute, waren so viele Deutsche bereit, so viele Fremde in Not in ihrer Mitte willkommen zu heißen.

Kann das gut gehen? Dürfen aus dem Moment heraus geborene Emotionen und gelebte Solidarität das nüchterne, oft als zynisch erscheinende Geschäft der Politik ersetzen? Wie weit trägt die neue Willkommenskultur, wenn die Bilder erst ihren Schrecken verloren haben? Wäre ein von Politikern wie dem CDU-Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder noch immer vehement abgelehntes Einwanderungsgesetz nichts als das überfällige Eingeständnis, dass Deutschland längst zu dem Einwanderungsland geworden ist, das es nie sein wollte? Die Debatte über diese und andere Fragen zur deutschen Migrationspolitik steht erst am Anfang. Wie immer sie aber ausgehen wird: Armando Sá Rodrigues würde das Land, in das er vor 52 Jahren als einmillionster Gastarbeiter einreiste, schon jetzt nicht wiedererkennen.