Fehler im System: Familien in Rentenversicherung benachteiligt

Studie der Bertelsmann Stiftung: Jedes Kind bringt der Rentenkasse einen Überschuss von 77.000 Euro / Erziehungsleistungen von Eltern werden nicht angemessen anerkannt / Druck auf Rentensystem steigt ab 2030 sprunghaft

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Anette Stein
Director
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Antje Funcke
Senior Expert Familie und Bildung
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Sarah Menne
Senior Project Manager

Ein heute 13-Jähriger wird im Laufe seines Lebens durchschnittlich 77.000 Euro mehr in die Rentenkasse einzahlen als er selbst an Rente beziehen wird. Seine Eltern jedoch haben davon wenig. Zwar haben sie mit der Gründung einer Familie und ihrer Erziehungsleistung der Rentenkasse diesen Überschuss erst ermöglicht. Aber weder erhöht sich dadurch ihre eigene Rente wesentlich, noch zahlen sie weniger Beiträge als Kinderlose. Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung. Sie bezeichnet die heutige gesetzliche Rentenversicherung (GRV) als "nicht familiengerecht" und sieht dringenden Reformbedarf.

"Unser Rentensystem benachteiligt Familien – ausgerechnet diejenigen, die das System am Leben erhalten", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. Kinder finanzieren in ihrem späteren Erwerbsleben mit ihren Einzahlungen in die Rentenkasse nicht nur die Altersversorgung ihrer eigenen Eltern, sondern auch die der Kinderlosen aus ihrer Elterngeneration. Weil die Menschen immer älter werden und zugleich immer weniger Kinder geboren werden, werden die Rentenbeiträge bereits ab 2030 ihre gesetzliche Obergrenze von dann 22 Prozent überschreiten und auch das Rentenniveau wird unter die gesetzliche Untergrenze fallen, hat Martin Werding berechnet, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bochum. "Spätestens mit dem Ende des demographischen Zwischenhochs 2030 gerät unser heutiges Rentensystem massiv unter Druck. Die Politik muss jetzt handeln und unser System nicht nur familiengerecht, sondern auch langfristig demographiefest machen", kommentiert Jörg Dräger die zu erwartenden Entwicklungen.

Obwohl sie das Rentensystem aufrechterhalten, tragen Familien in Deutschland während des Aufwachsens ihrer Kinder höhere Belastungen als Kinderlose. Denn Eltern kommen in der Familienphase neben ihrem eigenen Lebensunterhalt für zwei weitere Generationen auf. Sie finanzieren über ihre Rentenbeiträge die Generation ihrer eigenen Eltern, und zusätzlich investieren sie Geld, Zeit und Energie in ihre Kinder. Gerade wenn die Kinder klein sind, schränken Mütter und Väter zudem oftmals ihre Berufstätigkeit ein, so dass Einkommen und Rentenansprüche sinken. Die durchschnittlich 8.300 Euro hohe Mütterrente, mit denen das Rentensystem die Erziehungsleistung von Eltern honoriert, macht nur einen kleinen Teil der 77.000 Euro aus, die es durch jedes Kind an Überschuss erhält.

Auch die derzeit 156 familienpolitischen Maßnahmen und die staatlichen Bildungsangebote wiegen die Investitionen von Familien in Kinder nicht annähernd auf. Zwar kommt die Allgemeinheit, darunter auch die Kinderlosen, für die Kosten von Kitas, Schulen, Kindergeld und Elterngeld auf. Nach Berechnungen der Studie zahlt ein durchschnittliches Kind im Laufe seines Lebens trotzdem 50.500 Euro mehr in die Sozialkassen und ins Steuersystem ein als es an staatlichen Zuschüssen für Betreuung und Bildung erhält.

"Angesichts der Leistung von Eltern und der positiven Effekte, die ein Kind im weiteren Leben für die Gesellschaft erzielt, sollten Familien in der Erziehungsphase finanziell entlastet werden", sagte Dräger. Denn die hohe Belastung von Familien durch Rentenversicherungsbeiträge erhöht das Risiko, dass Kinder in Armut aufwachsen.

Professor Werding berechnet in seiner Studie zwei mögliche Reformmodelle, die Eltern in der aktiven Familienphase besserstellen würden und Fehlanreize gegen eine Familiengründung korrigieren könnten. Dies entspräche früheren Forderungen des Bundesverfassungsgerichts. Aktuell ist hierzu eine Klage beim Bundessozialgericht anhängig. Das eine Modell sieht vor, Kinderfreibeträge ins gesetzliche Rentensystem einzuführen, wie es sie im Steuersystem bereits gibt. Dadurch würden Eltern in der aktiven Familienphase weniger Beiträge in die Rentenversicherung einzahlen.

Das zweite Modell einer "Kinderrente" würde einen umfassenderen Umbau des Rentensystems bedeuten. Es versucht, neben einer Entlastung von Familien die Alterssicherung demographiefest zu machen. "In beiden Fällen bessern sich die wirtschaftlichen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen", sagte Professor Werding. "Die Politik ist in jedem Fall gefordert, das Rentensystem so umzugestalten, dass es nach 2030 noch von unseren Kindern finanziert werden kann."

Methodik der Studie:

Die in der Studie vorgestellten Szenarien zur Berechnung der zukünftigen Entwicklung des Rentensystems sowie zur Simulation der Reformvorschläge beruhen auf einem von Professor Martin Werding im Auftrag der Bertelsmann Stiftung erstellten Simulationsmodell. Auf der Grundlage aktueller Daten der amtlichen Statistik ermöglicht es das Modell, langfristige Entwicklungstrends fortzuschreiben und ihre wirtschaftlichen und finanzpolitischen Auswirkungen aufzuzeigen. Nähere Angaben zu Annahmen und Methoden finden sich in der Studie. Die Berechnungen des "Wertes" eines Kindes für die öffentlichen Finanzen und die GRV beziehen sich auf ein im Jahr 2000 geborenes, durchschnittliches Kind. Die Zahlungsströme wurden auf das Jahr 2010 abgezinst.